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Neue Hilfe für Schwerstbehinderte

Das erste sächsische Zentrum wurde in Dresden gegründet. Hier laufen für Betroffene alle Fäden zusammen.

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© Sven Ellger

Von Juliane Richter

Ein Ausflug mit ihren beiden Jungs ist für Dorit Vogel mit einiger Organisation verbunden. Und mit starken Nerven. Der 22-jährige Tim und der 17-jährige Ben sind mehrfach körperlich und geistig behindert. Tim sitzt dauerhaft im Rollstuhl, Ben kann laufen. „Allein mit beiden spazieren zu gehen, funktioniert aber kaum. Ben bleibt ja nur stehen und schaut nach den Autos“, sagt die 50-Jährige lachend. Sie und ihr Mann haben die Behinderung der beiden jüngsten Söhne angenommen, ihren Tagesablauf darauf eingestellt und gelernt, Probleme zu lösen. Aber sie sind auch froh über jede Form von externer Hilfe.

Einen verlässlichen Wegbegleiter und Helfer haben sie in Chefarzt Christoph Kretzschmar gefunden. Er leitet das Sozialpädiatrische Zentrum am Städtischen Klinikum Neustadt. Es ist eines von derzeit acht Zentren in Sachsen, die sich um mehrfachbehinderte Kinder oder Kinder mit Entwicklungsstörungen kümmern. Tim hat er in dessen erstem Lebensjahr kennengelernt, als bei ihm erstmals epileptische Anfälle auftraten und sich plötzlich abzeichnete, dass er sich nicht altersgemäß entwickelt. Im Zentrum können jedoch nur Kinder bis zum 18. Lebensjahr behandelt werden. Danach war bisher Schluss – obwohl der Betreuungsbedarf weiterhin da ist. „Laut UN-Behindertenrechtskonvention haben diese Menschen Anspruch auf die gleiche gesundheitliche Behandlung. Aber sie können sich zum Teil nicht artikulieren und können auch nicht allein zum Arzt“, sagt Kretzschmar.

Bisher mussten sich diese Patienten einen Hausarzt suchen. Denen fehlt laut Kretzschmar allerdings oft die Erfahrung im Umgang mit Schwerstmehrfachbehinderten und auch die Zeit. Die Patienten werden mitunter unruhig, zappeln, schreien. Untersuchungen dauern deutlich länger und brauchen viel Geduld.

Um den Bedarf für über 18-Jährige weiter bedienen zu können, hat das Städtische Klinikum im Oktober das „Medizinische Zentrum für Erwachsene mit Behinderung“ (MZEB) gegründet. Dieses ist das Erste seiner Art in Sachsen und übernimmt nun schrittweise die jungen Erwachsenen, die bis dahin im Sozialpädiatrischen Zentrum betreut wurden.

Sind es dort bisher rund 3500 Patienten pro Jahr, rechnet Kretzschmar mit bis zu 200, die jährlich in das neue Erwachsenen-Zentrum wechseln oder neu hinzukommen. Denn zum Patientenklientel gehören nicht nur Menschen, die von Kindheit an behindert sind, sondern auch jene, die die Behinderung erst im Laufe des Lebens entwickeln. Wie etwa bei einem jungen Mann, der nach einem schweren Motorradunfall eine Teillähmung und Sprachstörungen davongetragen hat. Oder eine Mittdreißigerin, die plötzlich einen Schlaganfall erleidet und dadurch komplett aus ihrem bisherigen Leben gerissen wird. Um im MZEB aufgenommen zu werden, müssen sie einen Behinderungsgrad von mindestens 70 Prozent haben. Die Krankenkassen übernehmen dann die Kosten für die Versorgung durch das Zentrum.

Hilfe bei Anträgen und Organisation
Die Aufgaben des MZEB ähneln dabei denen des Zentrums für Kinder. Einerseits werden alle medizinischen Probleme besprochen. So ist Dorit Vogel einmal pro Halbjahr mit ihren Söhnen zur routinemäßigen Kontrolle im Zentrum. Hinzu kommen Notfälle. Die äußern sich ganz unterschiedlich. Ihr älterer Sohn Tim hat recht dünne, poröse Knochen und sich deshalb schon öfter Brüche zugezogen. Aber wie artikuliert ein Mensch seine Schmerzen, wenn er nicht sprechen kann?

„Er hat nichts gegessen und die ganze Zeit gejammert“, sagt seine Mutter. Ihr erster Weg führt dann in die Notaufnahme des Neustädter Klinikums, in der Chefarzt Kretzschmar hinzugezogen wird. Nach 22 gemeinsamen Jahren kennt er nicht nur die Krankengeschichte der beiden Söhne, sondern ist sofort aussagefähig zur Medikation und möglichen Komplikationen.

Zur Versorgung im Zentrum gehört neben rein medizinischen Aspekten aber auch Hilfe bei organisatorischen Fragen, wie zum Beispiel bei der Pflegestufe oder dem Behindertenausweis. Außerdem achten die Ärzte auf so allgemeine, aber wichtige Dinge, wie den Impfstatus, der bei Schwerstbehinderten und den ständig neuen Problemen schnell in Vergessenheit geraten kann. „Bei der Prävention weisen wir auch auf die Brustkrebs-, Darmkrebs- und Prostatakrebsvorsorge hin“, ergänzt Kretzschmar.

Das MZEB wird von Neurologin Katrin Lotter geleitet und befindet sich auf der Industriestraße 35. Zum Team gehören auch ein Facharzt für Innere Medizin, Psychologen, Heilpädagogen, Physio- und Ergotherapeuten sowie Sozialarbeiter. Mutter Dorit Vogel ist dankbar, dass sie dann auch kommendes Jahr, wenn ihr jüngster Sohn Ben volljährig wird, dort weiterhin in guten Händen ist. Ihre Jungs sind „beides Sonnenscheine und eigentlich gut gelaunte Kinder“, sagt sie abschließend und mit stolzem Lächeln.

An diesem Freitag lädt das Sozialpädiatrische Zentrum zu einem öffentlichen Kinderfest ein. Am Sonnabend wird das neue MZEB bei dem Symposium „Behinderung und Inklusion – Wenn Anspruch auf Wirklichkeit trifft“ ab 9 Uhr in der Landesärztekammer mit vorgestellt. Anmeldungen bitte unter Tel: 0351 85 63 552