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„Neuankömmlinge sehen die Stadt mit anderen Augen“

Sultan Daraghmeh weiß nur zu gut, was Zerstörung und Flucht bedeuten. Sein Wissen und Können setzt er für andere ein.

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© Claudia Hübschmann

Von Marcus Herrmann

Meißen. Sein Engagement stehe für Verständigung und Toleranz. Mit diesen Worten beginnt die Laudatio auf den gebürtigen Palästinenser Sultan Daraghmeh, der seit 1991 mit seiner Frau in Meißen lebt. Bereits während des Neujahrsempfangs im Meißner Rathaus wurde das ehrenamtliche Wirken des 49-jährigen gewürdigt. Als vierten von fünf Ausgezeichneten stellt ihn die SZ heute vor: „Trotz schwieriger Umstände ist es Ihnen gelungen, ihre Lebensziele selbstbestimmt zu verfolgen“, hatte damals Stadtmarketing-Chef Christian Friedel über Daraghmeh gesagt.

Und er endete mit dem Satz: „Sie überzeugen uns mit Ihrem Einsatz davon, dass wir die uns mögliche Verantwortung im Ehrenamt als Schönste aller Lebensformen begreifen dürfen.“ Mit diesem Satz kann sich Sultan Daraghmeh identifizieren. Das sagt er selbst. „Für Geflüchtete und Asylbewerber da zu sein, hat mein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Aber ich bin nie zuvor mit diesem Gefühl der Bereicherung und Selbstzufriedenheit ins Bett gegangen, wie in den letzten Monaten.“ Zwar sei das oft erst mitten in der Nacht. „Aber die Leute geben mir so viel zurück. Das Engagement lohnt sich.“

Mehr als nur Helfer

Daraghmeh, der seit 2009 für die Meißner Firma UKA (Umweltgerechte Kraftanlagen) arbeitet, ist mehr als nur ein Helfer von Geflüchteten. Und mehr als ein Dolmetscher, der fließend hocharabisch spricht und mehrere Dialekte beherrscht. „Nein“, sagt Daraghmeh, „vor allem bin ich Seelsorger und Begleiter für diejenigen, die vor Krieg fliehen mussten und teilweise traumatisiert auf Ämter gehen, Deutschkurse besuchen und Arbeit finden müssen.“ Bei all diesen Dingen hilft er. Inzwischen sind es weit über 100 Menschen, die er seit Juli 2015 unterstützt hat. Bis zu 20 Stunden in der Woche ist Daraghmeh für „seine Leute“ da, vermittelt Sprachkurse oder führt sie zusammen mit seiner Frau Kerstin gleich selbst durch. Das alles tut er nach der Arbeit. Oder während seines Dienstes.

„Mein Arbeitgeber gibt mir die Möglichkeit dazu. Dafür bin ich sehr dankbar“, sagt der Mann, der vor 25 Jahren selbst aus seiner Heimat fliehen musste.

Ganze sechs Monate war er alt, als er mit seinen Eltern wegen des Einmarschs der israelischen Armee in Palästina nach Jordanien fliehen musste. Hier landete die Familie im „Camp Al-Husn“ – einem riesigen Flüchtlingskomplex – mehr Kleinstadt als Camp. Aber Daraghmeh lernt, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Er hadert nicht, sondern schafft es auf das Gymnasium in eine „echte“ Stadt unweit des Camps. Hier sind seine Noten so gut, dass er ein Auslandsstipendium in Moskau erhält. Hier lernt Daraghmeh fünfeinhalb Jahre und geht als Ingenieur für chemische Verfahrenstechnik und mit seiner Frau, die er während des Studiums kennengelernt hat, nach der Wende nach Meißen. Denn hier ist die Heimat von Kerstin.

Auf direktem Wege

Beide bauen sich eine Existenz auf, bekommen drei Kinder, die heute 26, 24 und 18 Jahre alt sind. Als im Laufe des letzten Jahres immer mehr Flüchtlinge in Meißen landen, tut Daraghmeh wegen seiner Sprachkenntnisse und seinen persönlichen Erfahrungen das, was viele in Meißen tun: Er hilft. Unbürokratisch. Auf direktem Weg. Durch Mundpropaganda finden die Leute zu ihm, rufen bei ihm an, wenn sie Probleme haben. „Viele von ihnen gehören heute fast schon zur Familie. Mit etwa 20 Menschen aus Syrien, Irak oder Tschetschenien habe ich dauerhaft Kontakt.“

Daraghmeh freut sich, dass viele von ihnen heute angekommen sind und in Meißen Fuß gefasst haben. „Es ist schön zu sehen, dass Menschen, die vor ein paar Monaten nur weg wollten, die Stadt jetzt mit anderen Augen sehen, die Kultur und die Menschen akzeptieren und sich immer besser integrieren. Das ist die schönste Frucht aus meiner Tätigkeit“, sagt Daraghmeh.

In der nächsten Woche stellt die SZ die Letzte der fünf von der Stadt ausgezeichneten Ehrenamtlichen vor.