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„Nähe zu Dresden ist Fluch und Segen“

Jugendliche interessieren sich wieder mehr für Ausbildungen. Doch nicht alle Branchen profitieren von diesem Trend.

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© IHK

Landkreis. Endlich mal eine gute Nachricht vom Ausbildungsmarkt. Im Vergleich zum Vorjahr haben sich in unsere Region mehr Jugendliche für eine duale Ausbildung entschieden als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Bis Ende Mai schlossen 1 902 junge Männer und Frauen einen Lehrvertrag mit einem Betrieb der Dresdner Industrie- und Handelskammer (IHK) ab. Damit konnte der Vorjahreswert um knapp zehn Prozent übertroffen werden. Diese Nachricht verkündete die IHK Anfang Juni. Lars Fiehler, 45 Jahre, Betriebswirt und Sprecher der IHK Dresden, erklärt, wie es dazu gekommen ist, wie es in Zukunft weitergehen könnte und welche Chancen er den Flüchtlingen einräumt, die in den letzten Monaten nach Sachsen gekommen sind.

Herr Fiehler, die IHK Dresden vermeldete, dass es bis Ende Mai mehr Lehrvertrags-Unterzeichnungen gegeben hat als in den Vorjahresmonaten. Wie kommt es, dass sich wieder mehr junge Leute für eine Lehre entscheiden?

Dafür gibt es sicher mehrere Gründe. Erstens: Schulen, Kammern, Arbeitsagenturen und andere Partner bemühen sich stärker als in der Vergangenheit, den Schülern eine umfassende Berufsorientierung zu geben und ihnen zu zeigen, welche Chancen eine duale Ausbildung eröffnet. Zweitens: Es hat sich herumgesprochen, dass viele Studierende ihr Studium abbrechen, sei es aus Leistungsgründen, weil die inhaltlichen Vorstellungen andere waren, oder sie mit dem späteren Abschluss keine Perspektiven sehen. Das ist ohne Frage auch eine Folge der in den Schulen sehr früh zu treffenden Entscheidung über den künftigen Lernweg. Nach der vierten Klasse schlägt mittlerweile die Hälfte der Schüler den Weg aufs Gymnasium ein, die allermeisten natürlich, um später zu studieren.

Dass weder unsere Region noch unser Land so viele Akademiker brauchen, liegt zwar auf der Hand, trotzdem greift diese Erkenntnis nur sehr langsam. Nicht nur heute, sondern auch in den kommenden Jahren, ist unsere Wirtschaft stärker denn je auf gut qualifizierte Facharbeiter, Gesellen und Meister angewiesen. Und drittens: Die Firmen haben inzwischen erkannt, dass sie aktiv auf die Jugendlichen zugehen und sich als attraktiver Ausbildungsbetrieb bekannt machen müssen. Und das tun sie, indem sie sich auf Messen vorstellen, Tage der offenen Tür veranstalten, direkt an Schulen gehen beziehungsweise mit ihnen Partnerschaften abschließen. Alles zusammen sollte dazu beitragen, dass sich jetzt wieder mehr Jugendliche für eine Ausbildung interessieren.

Kann man schon von einer Trendwende sprechen?

Ich hoffe es, ganz sicher bin ich mir nicht. Es kann sein, dass der aktuelle Anstieg auch mit daran liegt, dass sich Firmen die guten Leute schneller sichern wollen, und die Lehrvertragsunterzeichnung vorziehen. Außerdem beginnt das Lehrjahr 2016 schon sehr früh. Ob sich ein neuer Trend abzeichnet, wird man erst in den nächsten Jahren sehen.

Die regionalen Unterschiede sind groß. Während der Kreis Meißen ein Plus von zwölf Prozent, Dresden ein Plus von neun Prozent vermelden kann, gibt es im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge nur einen Zuwachs von einem Prozent. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Die Nähe von Freital, Wilsdruff, Heidenau und Pirna zu Dresden ist in diesem Zusammenhang für den Landkreis Fluch und Segen zugleich. Positiv ist sie für die Jugendlichen, die in Städten und Gemeinden an der Dresdener Stadtgrenze wohnen. Sie können sich zwischen Angeboten in der Region und in der Landeshauptstadt entscheiden, da beide gut und schnell zu erreichen sind. Für die Firmen im Kreis ist die Mobilität der Jugendlichen eher nachteilig. Denn Dresden ist als Ausbildungsort beliebt. Deshalb zieht es viele Jugendliche dorthin. Allein aufgrund der Entfernung fällt dieser Effekt in Riesa oder Görlitz deutlich geringer aus.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, wie die hiesigen Unternehmen mehr vom Umschwung auf dem Ausbildungsmarkt profitieren könnten?

Die Unternehmen kennen die Probleme. Der Trend, und ich hoffe, es ist einer, gilt auch nicht für alle Branchen gleich. Einige Wirtschaftsbereiche haben es schon immer leichter als andere Azubis zu finden. So gelingt es etwa den Metallbetrieben im Müglitztal schon immer recht gut, ihre Lehrstellen zu besetzen, indem sie eng kooperieren und sich gemeinsam als interessante Arbeitgeber präsentieren. Die Uhrenindustrie ist ein Sonderfall, sie zieht seit Jahren Nachwuchs aus dem gesamten Bundesgebiet an. Die für das Osterzgebirge und die Sächsische Schweiz wichtige Tourismuswirtschaft hat es da schon deutlich schwerer. Die Vergütung ist meist geringer als in der Industrie, und auch die Arbeitszeiten – oft mit Wochenend- und Feiertagsdiensten verbunden – wirken nicht gerade anziehend auf viele Jugendliche. Auch deshalb strecken die Betriebe der Hotellerie und Gastronomie ihre Fühler verstärkt jenseits der Grenze in Tschechien aus.

Wie gut gelingt das?

Zumindest in Einzelfällen gut. Grundsätzlich sind tschechische Jugendliche, genau wie fertige Fachkräfte, aber eher standorttreu. Dazu muss die Sprachbarriere überwunden werden. Pendeln sie, ist zu regeln, wie sie zur Arbeit und in die Berufsschulen kommen. Ziehen sie für eine Ausbildung um, stellt sich meist die Kostenfrage.

In den letzten Monaten sind sehr viele Flüchtlinge ins Land gekommen, darunter auch viele Jugendliche. Könnten sie offene Ausbildungsstellen füllen?

Nach unseren Erfahrungen auf kurze und mittlere Sicht nicht. Viele Betriebe stehen dem Thema zwar offen gegenüber, wollen Sicherheit. Es macht für sie wenig Sinn, jemanden einzustellen, der Deutschland vielleicht bald wieder verlassen muss. Deshalb muss die Bleibeperspektive geklärt sein. Als künftige Lehrlinge müssen sie sowohl im Betrieb als auch in der Berufsschule von Beginn an Deutsch sprechen. Es müssen also die sprachlichen Voraussetzungen geschaffen werden, bevor es daran gehen kann, die mehrheitlich bestehenden Defizite in der Schulausbildung zu beheben.

Wie viele Jugendliche, die in unsere Region geflohen sind, haben im vorigen Jahr hier eine Lehre aufgenommen?

Im letzten Jahr haben in unserem Kammerbezirk etwa ein Dutzend Flüchtlinge eine Lehre begonnen. Sie waren allerdings schon vor der großen Flüchtlingswelle zu uns gekommen und sprachen recht gut Deutsch. Ich glaube nicht, dass die Zahl der Flüchtlinge, die eine Lehre beginnen werden, in diesem und im nächsten Jahr gravierend steigen wird. Für eine solide Vorbereitung werden wohl zwei Jahre gebraucht. Außerdem gibt es da noch ein kulturelles Phänomen, oder zumindest ein Kommunikationsproblem. Die Berufsausbildung, wie sie in Deutschland, Österreich und der Schweiz Tradition hat, gibt es in anderen Ländern nicht. Wenn wir den Jugendlichen erklären, dass es für einen guten Job notwendig ist, sich noch einmal auf die Schulbank zu setzen, und dann noch erfahren, dass es als Lehrlingsgeld „nur“ ein paar Hundert Euro gibt, ist die Enttäuschung groß und die Mundwinkel gehen nach unten. Sie glauben, man würde ihnen nichts zutrauen, da viele in ihren Heimatländern bereits gearbeitet haben, und hofften, hier schnell und viel Geld verdienen und auch in die Heimat schicken zu können. Diese Erfahrung haben nicht nur wir als IHK gemacht, auch die Handwerkskammern und andere Institutionen bestätigen das.

Das Gespräch führte Maik Brückner.