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Mehr als 300 wollen in Mücka Ricard und Kendrick helfen

Die Zwillinge brauchen dringend neue Stammzellen. Das mobilisiert die Menschen aus ihrer ehemaligen Heimat.

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© André Schulze

Von Sabine Ohlenbusch

Es ist kurz nach 15 Uhr am Montagnachmittag. Hinter einer Front aus Schultischen sitzen drei Mitarbeiterinnen des Deutschen Roten Kreuzes Nordost im Foyer der Comenius-Schule in Mücka. Sie empfangen die Spendewilligen. Doch nicht Geld oder Kleidung wollen die Freiwilligen zur Verfügung stellen. Sie sind bereit, zwei kostenlose und gleichzeitig äußerst kostbare Güter weiterzugeben: ihr Blut und vielleicht auch ihre Stammzellen. Wenn das genetische Profil passt, können sie einen Patienten retten, der ohne eine Stammzellspende nicht überleben kann.

Schilder weisen den Spendern den Weg.
Schilder weisen den Spendern den Weg. © André Schulze
Annette und Torsten Soldan wissen aus eigener Erfahrung, was eine schwere Erkrankung bedeutet.
Annette und Torsten Soldan wissen aus eigener Erfahrung, was eine schwere Erkrankung bedeutet. © André Schulze

Viermal im Jahr kommt der Blutspendedienst des Deutschen Roten Kreuzes, kurz DRK, in die Comenius-Schule Mücka und empfängt einen treuen Spenderkreis. Im Schnitt seien es 40 Menschen, die pro Termin kommen, sagt Frank Michler. Er organisiert die Blutspenden für den Raum Görlitz.

Doch an diesem Montag ist der Andrang viel größer als sonst. 346 Menschen werden es am Ende des Tages sein. Bereits von Beginn an bilden sich Warteschlangen. Denn für diesen Termin ist ein großer Aufruf durch Zeitungen, Radio und Internet gegangen. Die beiden Zwillinge Ricard und Kendrick aus Freital leiden an einer sehr seltenen Nervenerkrankung und brauchen dringend eine Stammzellspende. Ihre ersten drei Lebensjahre haben sie in Mücka verbracht. Sogar im Stadion von Dynamo Dresden sind die Zuschauer aufgerufen worden, sich als Spender typisieren zu lassen. Zuvor haben bei einer Aktion in Freital mehr als 3 700 Menschen gezeigt, dass sie den Zwillingen Mut machen wollen.

Die Typisierung kann mit einer Blutspende verbunden werden oder einzeln erfolgen. „Denken Sie daran, dass die Menschen, die Stammzellspenden brauchen, auch Blutkonserven benötigen“, mahnt eine der Damen am Empfang. Holger Ladusch, der ihr gegenüber steht, ist sofort überzeugt: „Sie haben Recht. Dann machen wir doch gleich alles.“ Nun heißt es für ihn erst einmal Lesen und Schreiben. Denn zunächst muss er Aufklärungsbögen durchgehen und Formulare zu Vorerkrankungen und anderen persönlichen Daten ausfüllen. Dann kommen lange Schlangen zur Voruntersuchung. Seine Eisenwerte werden überprüft und schließlich geht eine Ärztin im Gespräch die wichtigsten Eckpunkte noch durch.

Dann kommt der Piks. Die Spende selbst dauert nur rund zehn Minuten. Als Holger Ladusch die Schule wieder verlässt, ist es bereits dunkel. „Freunde von mir kennen die Familie der Jungs und haben über Facebook diesen Termin geteilt“, sagt der junge Mann aus Kreba-Neudorf. „Es hat überhaupt nicht wehgetan. Ich will jetzt regelmäßig Blut spenden.“

Kurz darauf kommt eine Gruppe athletischer junger Männer an den Empfang. Auf ihren dunklen Trainingsjacken steht in gelb „SG Kreba-Neudorf“. Die Fußball-Herrenmannschaft des Sportvereins erscheint fast geschlossen zur Typisierung. Trainer David Blümel macht da keine Ausnahme. „Wir sind mit rund zehn Mann hier“, stellt er fest, „einige sind auch schon früher gekommen.“ Sie haben in ihrer Whatsapp-Gruppe abgesprochen, dass sie gemeinsam spenden wollen. Ursprünglich hat einer von ihnen über den Aufruf im Dynamo-Stadion von Ricard und Kendrick erfahren, die selbst begeisterte Kicker sind. Das Team hat sich daraufhin über einen passenden Termin in der Nähe informiert.

Ganz persönliche Gründe, an diesem Montag in die Comenius-Schule zu kommen, hat das Ehepaar Soldan. „Wir haben am eigenen Leib erfahren, was eine so schwere Diagnose bedeutet“, sagt Torsten Soldan. Bei seiner Frau Annette ist vor einigen Jahren eine Krebserkrankung festgestellt worden. Zu ihrem Glück ist alles gut verlaufen. „Gesundheit ist nicht selbstverständlich“, sagt ihr Mann. „Wenn ich ohne Aufwand etwas Gutes tun kann, mache ich es auch.“ Annette Soldan und ihr kleiner Sohn sind zur Unterstützung mitgekommen. Als Spenderin kommt sie nicht mehr infrage, auch wenn sie seit Jahren typisiert ist. Schließlich spielt für Torsten Soldan die Nähe der Familie eine Rolle: „Ich bin im Nachbardorf Kreba-Neudorf aufgewachsen, ich fühle mich mit dem Schicksal der ganzen Familie verbunden.“

Dass die Typisierungsaktion in der Region stattfindet, aus der Kendrick und Ricard stammen, hat über die Verbundenheit der potenziellen Spender hinaus auch ganz praktische Gründe. „Eventuelle gemeinsame Vorfahren erhöhen die Wahrscheinlichkeit, einen passenden Spender zu finden“, erklärt Karen Utikal. Als Koordinatorin der Stammzellspenderdatei im Bereich Sachsen kann sie berichten, dass seit 1997 rund 900 Menschen Stammzellen gespendet haben – nur aus ihrer Datei mit etwa 77 000 Freiwilligen in Ostdeutschland.

Weltweit gibt es sogar 27 Millionen Spender. Koordinatorin Karen Utikal hofft, auch Ricard und Kendrick bald helfen zu können. Vier bis sechs Wochen dauert es, bis die Daten der Spender im zentralen Register in Ulm eingetragen sind. Ab dann können Suchzentren auf der ganzen Welt darauf zugreifen. Mit jedem Spender steigt die Hoffnung für alle, die auf eine Spende warten.