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Her mit dem Tempolimit

Außer Deutschland haben nur Afghanistan, Haiti, Nordkorea und Somalia kein Tempolimit. Mit diesem Irrsinn muss Schluss sein.

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© dpa

Von Thomas Gsella

Am 26. Juli 2015 war meine Schwester mit ihrer fünfzehnjährigen Tochter auf dem Weg in gemeinsame Ferien. Ihr Ziel hieß Usedom, sie wollten auf der Ostseeinsel spazieren, ausschlafen, reiten und baden und kamen niemals dort an. Am Nachmittag und Abend dieses Tages starben sie, fürchterlich verletzt, infolge eines jener Auffahrunfälle, wie sie in Polen oder Italien, in Schweden oder Spanien und fast überall in Europa kaum je tödlich enden, immer wieder aber in Deutschland, dem einzigen Land des Kontinents, das die Geschwindigkeiten auf Autobahnen nicht gesetzlich begrenzt.

Thomas Gsella, 1958 in Essen geboren, war von 1992 bis 2008 Redakteur und von Oktober 2005 bis 2008 Chefredakteur des Satiremagazins Titanic. Er schreibt Kolumnen für verschiedene Medien und zudem komische Lyrik.
Thomas Gsella, 1958 in Essen geboren, war von 1992 bis 2008 Redakteur und von Oktober 2005 bis 2008 Chefredakteur des Satiremagazins Titanic. Er schreibt Kolumnen für verschiedene Medien und zudem komische Lyrik.

Von gemeinsamen Fahrten weiß ich, dass meine Schwester eine besonnene Autofahrerin war und also keine aggressive; selten fuhr sie mehr als 120 Kilometer in der Stunde, aus Furcht und auch, weil es ihre Autos nicht ohne Knirschen zuließen. Sie arbeitete in den unterbezahlten Berufen der Kranken- und Behindertenpflege und kam Zeit ihres Lebens nicht in die Lage, eines jener Autos zu erwerben, die über eine für Europa ungeeignete, weil vollkommen übertriebene Motorenleistung und Höchstgeschwindigkeit verfügen, ja zum Teil doppelt so schnell fahren können wie auf dem Kontinent erlaubt und ein Vielfaches jener Modelle kosten, die auf europäisch begrenzte Höchstgeschwindigkeiten ausgerichtet sind.

Gälten diese auch in Deutschland, würde kaum ein Deutscher, kaum ein Europäer, kaum ein Mensch solche Autos kaufen. So aber ist es den Herstellern dieser monströsen Mobile gestattet, die deutschen Autobahnen als Test- und Präsentationsparcours zu missbrauchen.

Meine Schwester wollte einen Lastwagen überholen, wechselte auf die linke Spur, und ein Auto der deutschen Marke Audi, einige Zehntausend Euro teuer, fuhr mit einer Geschwindigkeit von etwa 200 Kilometern in der Stunde von hinten in das Auto meiner Schwester, das nach rechts flog in die Wiese und sich mehrmals überschlug. Sekunden später waren meine Schwester und ihre Tochter bewusstlos vor Schmerz und ihre Körper zerstört.

Es ist nicht klar, ob meine Schwester den heranrasenden Audi übersah oder ob der Fahrer des Audi ihre Geschwindigkeit überschätzte und deswegen in sie raste. Unabweisbar aber ist, dass beide mit höchster Wahrscheinlichkeit noch lebten, hätte die Geschwindigkeitsdifferenz nicht 80 oder 100 Kilometer in der Stunde betragen, sondern 10 oder 20; und auch der Fahrer des sogenannten Gegnerautos müsste, gäbe es auch in Deutschland ein Tempolimit, nun nicht damit zurechtkommen, an zwei Toden beteiligt zu sein. Seine Familie saß im Auto und sah dieses Sterben, und so sind auch diese Menschen Opfer der deutschen Verkehrspolitik, die solche Raserei nicht verbietet, sondern fördert. Weltweit gibt es kaum mehr als eine Handvoll Staaten ohne Tempolimit: Afghanistan, Bhutan, Nordkorea, Haiti, Somalia und Deutschland, und in diesem Kreis erlauben nur die deutschen Straßenverhältnisse jene Geschwindigkeiten, die meine Verwandten aus dem Leben schleuderten.

Autofahrer, die von Deutschland aus die Grenze überqueren, kennen diesen Moment des Auf- und Durchatmens: wie entspannt das Fahren plötzlich ist! Tendenziell gleichschnelle Autos rollen hintereinander her, Überholende fahren kaum schneller, augenblicklich registriert man die Verminderung der Lebensgefahr. Dass auf deutschen Autobahnen Krieg herrscht, leugnen nur die, deren Politik ihn täglich neu entfacht, und wäre die deutsche Autobahnpolizei omnipräsent, sie müsste täglich Zehntausende anzeigen wegen des Verstoßes gegen das Gebot des Abstandhaltens. Auf der linken Spur dahinrasende, hupende und lichthupende Horden ziviler Rennwagen ohne nennenswerten Abstand voneinander sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel, und in der Regel sind es junge dumme Männer mit der auch moralischen Intelligenz eines Kieselsteins, die aufs Leben, das ihnen blüht, pfeifen und aus Verzweiflung, die sie als Todesmut missdeuten, auch alle anderen mit eben jenem Tod bedrohen, dem sie johlend entgegenrasen. Dass diese Horden gern weltweit so rasten, mag sein; dass sie es in Deutschland dürfen, ist ein Skandal.

Ich habe meine Schwester geliebt und ihre 15-jährige Tochter, die geliebt wurde von ihren Geschwistern und geliebt von ihrer nun toten Mutter und ihrem Vater, der beide verlor, viele Dutzend Kinder und Frauen und Männer werden nun trauern müssen, jahrelang, jahrzehntelang, ihr Leben lang. Täglich sind in Deutschland neue Verkehrstote zu betrauern, über dreitausend im Jahr, viele sterben an überhöhter Geschwindigkeit, und allein Strafgesetze hindern mich, meine Empörung und meine Wut diejenigen spüren zu lassen, die für diese Tode, für diese Raserei Mitverantwortung tragen, indem sie alles taten und tun, die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu erhalten.

Denn auch diese Verantwortung hat Namen und Anschrift, viele Hunderte, und an deren organisatorischer Spitze steht, als Beispiel für seinesgleichen Matthias Wissmann, der als Verkehrsminister sich fünf Jahre lang der deutschen Autoindustrie als Lobbyist empfahl und sich dann von ihr, am Tag seines Abschieds aus der Politik im Juni 2007, von der Straße wegkaufen ließ: Seit Juli 2007 ist Wissmann Präsident des Einfluss nehmenden und maßgeblichen Berliner Verbandes der Automobilindustrie, wo er sich der Einführung eines Tempolimits nun als Lobbyist just so erfolgreich widersetzt wie vordem als Minister. Mit dieser Tätigkeit verdient er gewiss zehn-, vielleicht hundertmal so viel Geld wie meine Kranke und Behinderte pflegende Schwester es tat, bevor sie und ihre fünfzehnjährige Tochter an einer Autobahn starben, auf der es faktisch kein Tempolimit gibt, weil die deutsche Autoindustrie und Matthias Wissmann samt seinesgleichen das nicht wollen.

Die zivilrechtliche- und Schmerzensgeldklage der hinterbliebenen Familie wurde vor wenigen Tagen abgewiesen, da die in Deutschland geltende Richtgeschwindigkeit von 130 km/h keine ist, nach der sich deutsche Autofahrer richten müssen.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die Denkanstöße geben und zur Diskussion anregen sollen.