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Mit Tempo 50 ans Nordkap

Zur Entschleunigung fuhr der Freitaler Thomas Schneider per Motorroller nach Skandinavien – ohne großen Plan.

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© Karl-Ludwig Oberthür

Freital. Der Lavendel wiegt sich vorm Haus im Wind. Die Schwalben fliegen hoch. Nach Regen sieht es nicht aus. Thomas Schneider schiebt seine LML Star 200 auf die Dorfstraße in Somsdorf und dreht eine Runde mit dem weißen Motorroller, der einer italienischen Vespa PX ähnelt. Am nahen Feld macht der 42-Jährige halt und sagt: „Seit ich vom Nordkap zurück bin, fahre ich öfter einfach so hierher oder zur Talsperre Malter.“

Auf der Rückfahrt ging es über die Lofoten, viele Inseln dort sind mit filigranen Brücken verbunden. Dort übernachtete Thomas Schneider auch mit seinem Zelt an einem See.
Auf der Rückfahrt ging es über die Lofoten, viele Inseln dort sind mit filigranen Brücken verbunden. Dort übernachtete Thomas Schneider auch mit seinem Zelt an einem See. © Foto: privat
Der schneeweiße Dom ist das Wahrzeichen der finnischen Hauptstadt Helsinki.
Der schneeweiße Dom ist das Wahrzeichen der finnischen Hauptstadt Helsinki. © Foto: privat

Rund 9600 Kilometer hat der Freitaler ab dem 28. Mai in gut sechs Wochen durch zehn Länder zurückgelegt. Dafür schaffte sich der langjährige Motorradfahrer extra den Retro-Roller mit dem Viertaktmotor und Hubraum von 200 Kubikzentimetern an. „Ich brauchte Abstand vom stressigen Berufsalltag“, offenbart der Polizeibeamte. „Kollegen rieten mir, mal allein zu verreisen. Ans Nordkap vielleicht? Diese Schnapsidee setzte sich bei mir fest.“

Thomas Schneider reist gern auf einfache Art: 2015 fuhr er mit Freunden von Delhi zur Ganges-Quelle im Himalaya-Gebirge. „Ich saß auf einer Royal Enfield 500, einem indischen Motorrad. Auch die LML-Roller wurden ursprünglich nur in Indien produziert.“

Für seine Nordkap-Tour tauscht Thomas Schneider die Zweiersitzbank gegen einen Einersitz aus. „So hatte ich Platz für eine Werkzeugkiste, in der ich das Gepäck verstauen konnte.“ Vorm Lenker befestigt er den Ersatzkanister. „Eine Tankfüllung von fünf Litern reicht für etwa 200 Kilometer. Für die Tagesetappen von circa 180 Kilometern war das bei starkem Gegenwind zu knapp.“

Einen großen Plan hatte er vorher nicht. „Mithilfe des Internets wählte ich vorm Start nur die ungefähre Runde ohne lange Fährpassage aus. Ich wollte Autobahnen meiden und mich ansonsten treiben lassen“, verrät Schneider. Bei der ersten Etappe zieht er auf der Bundesstraße B 97 über Cottbus bis zur Grenze nach Polen, dann auf kleinen Straßen bis nach Kolberg an der Ostsee. Auf der Weiterfahrt nach Danzig pegelt er sich aufs Reisetempo 50 ein. „An kleinen Dorfläden suchte ich Kontakt zu den Bewohnern. Sie sprachen selten Englisch. Doch mit der Karte verständigten wir uns über mein Woher und Wohin.“ In den Masuren erblickt der Freitaler fast auf jedem Dach einen Storch.

Mitternachtssonne im Hostel

Auf der Kurischen Nehrung in Litauen beneidet ihn ein 73-Jähriger, der mit dem Reisebus aus Bayern gekommen ist, um seine Freiheit: „Das wird das Abenteuer deines Lebens“, versichert er dem Freitaler. Schneiders Kollegen daheim wiederum schließen Wetten ab, wann er mit dem Roller aufgeben muss. „Sie hätten mich geholt.“ Doch Schneider muss auf der gesamten Tour weder sie noch einen Pannendienst in Anspruch nehmen.

Philosophisch wird ihm in Lettland zumute: „In Saldus hatte ich die riesige Kriegsgräberstätte für deutsche Soldaten gesehen. Kurz vor Riga blieb mein Roller stehen, der Sprit war alle. Genau dort befand sich ein russisches Soldatengrab. Ich sah Parallelen. Zugleich fielen mir Freunde ein, die erst nach Krankheiten verstorben waren.“ Auf einer Nachtfahrt muss sich Thomas Schneider zwischen Lkws behaupten, einen Standstreifen gibt es nicht. Windstöße drohen, ihn aus der Spur zu treiben. „Ich hatte echt Angst, übersehen zu werden.“

An der EU-Außengrenze dann steht er nachdenklich am Fluss Narwa. „Ich fragte mich: Wozu hatte man auf estnischer Seite mit EU-Fördergeldern so eine überdimensionierte, stark beleuchtete Straße gebaut, die kaum genutzt zu werden schien, während am anderen Ufer arme russische Kinder spielten?“ Aus St. Petersburg schreibt er den ersten Gruß an die Kollegen. Im Stau der Fünf-Millionen-Stadt schlängelt er sich – wie in Indien – zwischen den Autos hin und her. „Ich sah erhobene Daumen, aber auch Kopfschütteln.“ Versehentlich gerät er auf die Stadtautobahn, der Sprit wird knapp. In der Not fragt er einen Polizisten, der einen Unfall aufnimmt, nach der nächsten Tankstelle. „Er zeichnete mir eine Skizze mit Meterangabe. Es war knapp: 100 Meter vor der Tankstelle rollte ich aus und zog mit dem Kanister los.“

Nach 4 000 Kilometern unfallfreier Fahrt hat Schneider in Finnland zwei Pannen binnen 120 Kilometern: „Weil im Winter dort mit Spikes gefahren wird, haben die Straßen oft tiefe Spurrinnen. Zweimal zog ich mir einen Platten am Hinterrad zu.“ Junge Finnen helfen ihm.

In der lappländischen Hauptstadt Rovaniemi, die am Polarkreis liegt, erlebt der Abenteurer erstmals das Schauspiel der Mitternachtssonne. „Ich übernachtete in einem Hostel, einem Plattenbau, im fünften Geschoss. Von dort aus sah ich diese sonderbare Mischung aus Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Die Sonne versank für einen Moment hinter dem Horizont und stieg dann wieder empor.“

Beinahe vom Winde verweht

Je näher er dem Ziel kommt, umso stärker wird der Gegenwind. Auf der vorletzten Etappe gießt es ununterbrochen. Mit Tempo 25 kämpft sich Thomas Schneider über 60 Kilometer voran. Er wartet zwei Tage im nächsten Hostel ab, schaut wie in großer Familie mit anderen die Fußball-EM und motiviert sich. Am 21. Juni trifft er bei fünf Grad Celsius am Nordkap ein. „Mit dem Massentourismus dort hatte ich nicht gerechnet. Zeit innezuhalten, hatte ich kaum. Mit einer Engländerin und einem Österreicher, die im Flugzeug angereist waren und per Rad nach Nordspanien beziehungsweise Sizilien fahren wollten, wärmte ich mich in der Nordkaphalle auf: Viermal schauten wir uns den Panoramafilm über die vier Jahreszeiten am Nordkap zu samischer Musik an.“

Später erfüllt er italienischen Motorradbikern einen Wunsch – unter der Wettbedingung, dass das deutsche Fußball-EM-Team bei der Partie gegen Italien gewinnt. Sie wollen ein Zielfoto mit der LML, die der Vespa ihrer Heimat so ähnelt. Eine Nacht verbringt Schneider auf dem Zeltplatz am Eismeer. Auf dem Rückweg lässt er sich treiben. Er wählt spontan die Route 17 über die Inselgruppe der Lofoten in Norwegen. Sie führt durch kilometerlange Tunnel und über hohe, filigrane Fjord-Brücken. Wieder weht der Wind. Der Roller mit den kleinen, schmalen Rädern gerät oft in Schräglage. Schneider riecht aber auch die Wiesen und den Wald. Über Schweden und Dänemark reist er in die Heimat zurück. Die Kollegen zollen ihm Respekt, als er sich von daheim meldet. „Ob ich mit dem Roller so etwas noch einmal wage, weiß ich nicht. Doch ein nächstes Abenteuer wird es bestimmt geben“, verrät Thomas Schneider. Er startet den Roller wieder und fügt an: „Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die sich die Welt nie angeschaut haben – wie Alexander von Humboldt gesagt haben soll.“