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Mit leichtem Gepäck

Ex-Managerin Christine Thürmer nimmt Tempo aus dem Alltag. Der Tod eines Freundes bewirkt einen Lebenswandel.

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© Picasa

Von Jochen Mayer

Abenteurer sind sportlich und fit. Christine Thürmer lacht darüber herzhaft. Sie ist der beste Gegenbeweis. „Ich bin unsportlich“, behauptet die 48-Jährige stolz. Sie wurde trotz stattlicher 1,84 Meter Körpergröße nie für eine Sportart geworben, es störte sie nicht. Die Einser-Abiturientin hatte in der Schule eine einzige Schwäche: Sport. Wenn Mannschaften gewählt wurden, stand sie immer noch als Letzte da.

Christine Thürmer „Laufen. Essen. Schlafen. Eine Frau, drei Trails und 12700 Kilometer Wildnis“ Malik, 56 Fotos, 4 Karten, 288 Seiten, 16,99 Euro
Christine Thürmer „Laufen. Essen. Schlafen. Eine Frau, drei Trails und 12700 Kilometer Wildnis“ Malik, 56 Fotos, 4 Karten, 288 Seiten, 16,99 Euro

Trotzdem listet die im fränkischen Forchheim Geborene in ihrem Blog erstaunliche Ausdauerleistungen auf. In acht Jahren schaffte die einstige Managerin 32 250 Wanderkilometer, strampelte 30 000 Kilometer auf dem Rad, paddelte 6 500 Kilometer im Kanu. Mit 40 Jahren änderte Christine Thürmer ihr Leben radikal.

Die Geschäftsfrau hatte eigentlich alles: Erfolg im Beruf, Firmen-BMW, der ihr allerdings peinlich war, gutes Gehalt, Sekretärin. Als Alleingeschäftsführerin sanierte sie mittelständische Betriebe, musste auch kühl über Entlassungen entscheiden – bis sie selbst aus betrieblichen Gründen gekündigt wurde. Noch mehr erschütterte sie der Tod eines Freundes nach drei Schlaganfällen. „Das Knappste, was ich habe, ist Lebenszeit“, sagte sie sich. „Die kann ich nicht verlängern, die ist nicht planbar. Mein Freund starb mit 46. Ich wollte nicht warten bis zur Rente. Wer garantiert mir, dass ich da noch gesund bin?“

Zeit von Sonnenauf- bis -untergang

Ohne Bitterkeit schaut Christine Thürmer auf ihr Berufsleben. „Ich hatte es mir bewiesen, habe Karriere gemacht, war erfolgreich. Eine tolle Zeit“, sagt sie in einem Interview mit der Sächsischen Zeitung. Doch es gab mehr, worauf sie auch noch Lust hatte. Auf Wandern zum Beispiel. Und wenn, dann richtig. Der Pacific Crest Trail sollte es sein: 4 277 Kilometer, fast 150 000 Höhenmeter. Sie bekennt: „Ich war völlig unbedarft, kam frisch aus dem Bürosessel, hatte fünf Kilo Übergewicht.“ Vorbereitungen fanden vor dem Computer statt.

An der mexikanischen Grenze wusste Christine Thürmer: Die nächsten 150 Tage sind 33 Kilometer am Tag fällig. Sie ließ es langsam angehen, nutzte am Tag manchmal die gut 16 Stunden von Sonnenauf- bis -untergang. „Der größte Fehler ist, zu schnell zu sein.“ Sie lässt kein Leistungsdenken zu, geht es langsam an. „Ich ging in leichten Schuhen, habe mich langsam gesteigert. Der Körper gewöhnt sich daran, obwohl ich ein Anfänger war. Ich spürte mal Muskelkater, aber keine Abnutzungserscheinungen, kaum Blasen, keine Schienbeinreizung. Deshalb glaube ich fest daran, dass jeder, der halbwegs gesund ist, aus dem Stand 1 000 Kilometer gehen kann. Man muss es nur wollen.“

Schon nach zwei Wochen war Christine Thürmer klar: „Das ist es, hat etwas Befreiendes.“ Unterwegs hörte sie viele Lebensgeschichten, unterschied rasch zwischen denen, „die vor etwas davonlaufen, die unzufrieden sind mit ihrem Leben. Die wollen nur weg und auf dem Trail etwas klären“. Wenn das Problem aus der Welt ist, gehen sie zurück ins normale Leben. Das andere ist eine Hin-zu-Einstellung, die spürt auch Christine Thürmer: „Die wollen zu etwas hin, die kommen nicht aus einer unbefriedigenden Lebenssituation, die möchten etwas machen, entdecken, erleben. Diese Motivation trägt lange.“

Sie genoss, tun und lassen zu können, was sie wollte. „Wenn es mir gefällt, bleibe und genieße ich, wenn nicht, gehe ich weiter“, beschreibt sie das Leben ohne Termindruck. „Warum soll ich mir künstlich Stress machen, indem ich schnell laufe?“ Als einziger fester Termin stand beim Marsch nach Kanada der Wintereinbruch, der in den Bergen für Barrieren sorgen kann. Inzwischen tippelte Christine Thürmer auch die beiden anderen legendären Routen in den USA, den Continental Divide Trail und den Appalachian Trail.

Sie braucht plötzlich viele materielle Dinge nicht mehr. Nur Essen, Wasser, Wärme, Wetterschutz sind wichtig. Keine sechs Kilo trägt sie im Rucksack, nur das Allernötigste. Was darüber hinausgeht, ist Luxus: „Nach einer Woche Wüste ist eine Dusche ein kostbares Gut“, meint sie. „Und ein Schokoriegel kann für Glücksgefühle sorgen.“ Leben mit reduziertem Konsum ist ein Gewinn: „Ich kann mich auf das Wesentliche konzentrieren.“ Sie fand neue Lebensmaximen wie: „Wenn man sich freimacht, ist es kein Verzicht mehr.“ Und lange bevor die Bautzner Band Silbermond aus der Erkenntnis einen Hit machte: „Der Gewinn durch das leichte Gepäck ist viel größer als der Komfortverzicht.“

Wenig Geld, viel Natur

Christine Thürmer kommt seit sieben Jahren mit wenig Geld aus. „Viele sehen den grandiosen natürlichen Katalog nicht, die Angebotsvielfalt des Lebens und der Natur, was man alles machen kann, ohne großen Aufwand“, lautet eine ihrer Botschaften. „Wenn ich das kann als unsportliche Frau, mit wenig Geld, dann können das andere auch.“ In ihrem Buch „Laufen. Essen. Schlafen.“ und bei Vorträgen will sie anregen: „Leute, macht einfach. Einfach loslaufen. Man muss nicht trainieren, braucht keine tolle Ausrüstung. Wer wirklich will, kommt auch mit einfachen Mitteln weit.“

Die Extremgeherin kennt aber auch die Mühen der weiten Wege. Wer nur unterwegs ist, um sich selbst zu finden, hat es dabei schwer. „Man muss schon mit sich im Reinen sein, weil man sich oft nur selbst als Gesellschaft hat.“ Was sie unterwegs fand, ist Glück, „ohne es direkt zu suchen. Jeder kann es entdecken“, meint sie, „man muss Schranken im Kopf überwinden, muss seine Grenzen und Möglichkeiten kennen“.

Die nächsten Ziele stehen fest: Europa von Ost nach West, von Santiago de Compostela, Ziel des Jakobsweges, bis nach Istanbul. Und sie will von Tarifa, südlichster Punkt Europas, bis zum Nordkap. Die Hälfte der jeweils 10 000 Kilometer sind bereits absolviert. Ein Startort auf den extrem langen Halbetappen war Zinnwald. Jetzt wagt sie sich nach Osteuropa. Natürlich wieder mit dem leichten Gepäck.

christine-on-big-trip.blogspot.de