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Mit Grundgesetz und Megafon

Bis in den Januar gehen die sogenannten Staatenlosen in Seifhennersdorf auf die Straße. Eine Frage nach dem Warum.

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© Matthias Weber

Von Anja Beutler

Dunkel und einsam ist es in Seifhennersdorf: Türen und Fenster sind fest verschlossen, hier und da nur ein Lichtschimmer aber keine Menschenseele, kein Neugieriger in Sicht. Es ist ein Donnerstagabend, kurz nach sechs, als Viola Dagmar Mühl und ihre neun Begleiter vom Verein Staatenlos.info ihre Runde durch den Ort gehen. Vom Rathaus die Nordstraße entlang laufen sie, dann schwenkt die Gruppe rechts ein und kehrt an der still murmelnden Mandau zurück zum Ausgangspunkt.

Still sind die zehn Leute, die ein Transparent, eine russische und eine sächsische Flagge tragen allerdings nicht. Per Megafon kommentiert Frau Mühl, eine kleine, zierliche 54-Jährige, die Welt- und Lokalpolitik. Scheinbar am Wegesrand findet sie Themen, für die sie eine Lösung zu bieten hat: Es geht um die Deutschen, ihre Souveränität und die Verfassung. Zwischendurch ertönen Merkel-Zitate. Dann singt Liedermacher Reinhard Mey aus dem Lautsprecher.

Viola Dagmar Mühl glaubt, dass alle Deutschen in einer Lügenblase leben. Unsichtbar gelenkt von den Ost- und Westfaschisten, wie sie sagt. Noch immer sei man im Zweiten Weltkrieg, wenn auch seit 70 Jahren in einer Art Waffenstillstand. Noch immer gebe es keine nazifreie Verfassung, die vom Volke kommt. Noch immer stehen die Deutschen unter der Fuchtel der Alliierten.

Für Frau Mühl und ihre – an diesem Abend – neun Mitstreiter ist klar: „Wir leben im Dritten Reich. Die BRD ist kein souveräner Staat, sondern eine Nichtregierungsorganisation“, sagt sie. Wenn man der kleinen, energischen Frau bei ihren Erklärungen zuhört, klingt das wie eine Mischung aus Geschichtsunterricht und Jura-Seminar. Sie jongliert mit Grundgesetz-Artikeln und dem Lissabon-Vertrag, reiht eine Erklärung und Schlussfolgerung an die nächste. Was sie da erklärt, klingt ein bisschen nach blühender Fantasie. Wenn man dann auf der Internetseite des Trägervereins genauer nachliest, wimmelt es zudem von Verschwörungstheorien: Sogar das heutige Rauchverbot erklären die Staatenlosen mit Hitler.

Ohnehin werden die Deutschen mit Medikamenten, Giften im Trinkwasser und Strahlungen verseucht. Auch die Flüchtlingsströme gen Europa sind vom Amerikaner gemacht. Und Pegida sei auch nur ein staatlich inszeniertes Schauspiel für die Massen. Von Verschwörungstheorie wollen die Mitglieder der Seifhennersdorfer Gruppe nichts hören. Man berufe sich allein auf das Grundgesetz – fernab vom politischen Rechts-Links oder einem Glauben. Und weil möglichst viele diese Wahrheit erkennen sollen, hat Frau Mühl bis in den Januar hinein in Seifhennersdorf und auch Zittau wöchentliche Demos angemeldet.

„Das ist Scharlatanerie und Realitätsverweigerung“

Hans Vorländer, Politik-Professor an der TU Dresden und Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung, kennt solche Argumente: „Das ist Scharlatanerie und Realitätsverweigerung“, ordnet er ein. Natürlich habe Deutschland eine gültige Verfassung: das seit der Wiedervereinigung für ganz Deutschland geltende Grundgesetz. Und souverän sei der Staat natürlich auch, denn die Rechte der Alliierten seien mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag erloschen.

Zwar habe es Diskussionen um die Rechtsnachfolge des Dritten Reiches vor Jahrzehnten durchaus gegeben. Auch über die Frage, ob Deutschland eine neue Verfassung brauche, gab es Gesprächsbedarf: „Damit hat sich 1992/93 eine Verfassungskommission beschäftigt“, sagt der Professor. Am Ende seien alle – auch Bundestag und Bundesrat – mit großer Mehrheit zu der Erkenntnis gekommen, dass derzeit keine neue Verfassung nötig sei.

Warum aber zweifeln Gruppierungen, wie eben die vermeintlich Staatenlosen und auch die Reichsdeutschen die Legitimation der Bundesrepublik dennoch an? „In der Tat ist das ein recht neues Phänomen“, sagt Vorländer. Er hat den Eindruck, dass mit der Wiedervereinigung vor allem im Osten solche Ideen gewachsen sind. Doch während sich die Gruppierung der Staatenlosen eher in der antifaschistischen Tradition der DDR sieht, zeigt die andere Richtung, die Reichsdeutschen, eher rechte, nationalistische Tendenzen.

Von den Reichsdeutschen grenzen sich die Seifhennersdorfer auch klar ab: „Mit denen wollen wir nichts zu tun haben“, sagt Frau Mühl. Auch wenn sie selbst all die Dinge über Deutschland erst erkannt hat, als sich ihr früherer Chef als Reichsdeutscher zu erkennen gab. Doch Reichsdeutsche akzeptierten das System nicht, zahlten oft keine Steuern und bastelten sich eigene Ausweise.

Auch bei der Polizei sind solche Fälle bekannt: „Wir haben mit solchen Gruppierungen zu tun, wenn die Menschen beispielsweise wegen Steuerschulden eine Haftstrafe verbüßen müssen“, skizziert André Schäfer von der Polizeidirektion Görlitz. Aber auch dann greife die Polizei nur wegen der Gesetzesverstöße ein – nicht wegen des Gedankengutes, das den Dingen zugrunde liegt.

Gesetzesverstöße vermeiden Viola Dagmar Mühl und ihre Gleichgesinnten. Sie habe vor rund einem Jahr ihre Ausweispapiere erneuern lassen und der Seifhennersdorfer Verwaltungsmitarbeiterin damals erklärt, dass sie ihren Pass für ungültig hält. „Wir wollen keinen Ärger, wollen nicht provozieren“, sagt Frau Mühl. Deshalb sei man ganz normal als Verein eingetragen.

Dennoch versucht Familie Mühl, sich selbst zu versorgen, möglichst autark und somit wenig fremdbestimmt zu leben. Ihren Job bei einem Rettungsdienst in Berlin übt die Seifhennersdorferin nicht mehr aus, sie kümmert sich um Haus, Hof und den heimischen Obst- und Gemüseanbau.

Dass die Schar der Mitstreiter auch trotz der Demos am Seifhennersdorfer Netto in all den Monaten zuvor bislang nicht spürbar gewachsen ist, ficht die Gruppe nicht an. Frau Mühl ist sicher, viele trauten sich nur nicht, mitzulaufen. Für all die aktuellen Probleme von Hartz IV bis zum Flüchtlingsstrom biete ihre Idee des Weltfriedens die Lösung. Politikprofessor Vorländer hält derartige Äußerungen für politisches Sektierertum: „Aber das hält unsere Demokratie aus“, sagt er.