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Mit geschärften Sinnen

Denise Brodbeck wusste lange nicht, warum sie vieles anders wahrnimmt als andere. Heute weiß sie: Sie ist hochsensibel.

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© Sven Ellger

Von Jana Mundus

Denise Brodbecks Welt ist ein bisschen lauter als die ihrer Mitmenschen. Sie duftet intensiver und fühlt sich anders an. In ihrer Welt sind Kleinigkeiten riesig, werden Details zum großen Ganzen. Die 31-Jährige ist hochsensibel. Ihre Sinne sind Leistungssportler und führen sie oft an ihre Grenze. Sie nimmt Dinge wahr, die andere ausblenden. Das kann ein Geschenk sein, ist oft genug aber auch ein Kraftakt. Gefühle, die viele andere Hochsensible kennen dürften. Doch die meisten wissen gar nicht, dass es so etwas gibt. Dass sich selbst die Wissenschaft mit diesem Persönlichkeitsmerkmal auseinandersetzt. Dass es Forschung zum Thema gibt. Diesen Menschen will Denise Brodbeck von sich erzählen und ihnen helfen.

Wenn sie von ihrer Kindheit erzählt, dann gibt es stille Momente. Dann sitzt sie in ihrem Sessel und atmet tief durch. Auf der Suche nach den Gefühlen, die sie damals empfunden hat. Das ist ihr wichtig. „Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wie das damals für mich war“, sagt sie nach einigen Augenblicken. Eines weiß sie aber noch ganz genau: Ihre Grundschulzeugnisse hat sie irgendwann einmal feierlich verbrannt. Zu sehr gestört haben sie die Dinge, die da über sie geschrieben standen. Zu sehr verletzt.

Die Schulzeit in Baden-Württemberg war oft nicht einfach. Sie folgte den Erzählungen des Lehrers, schaute an die Tafel. Aber das war ein Kampf gegen ihre Sinne, die immer wieder abdrifteten, die viele andere Sachen im Klassenzimmer wahrnehmen wollten. Mit vielen Menschen in einem Raum zu sein, ist für die meisten Hochsensiblen eine Herausforderung. „Damals wusste ich, wussten die Lehrer gar nicht, dass es so etwas wie Hochsensibilität überhaupt gibt“, erzählt sie. Die Lernsituation überforderte sie. Der Kampf um die Konzentration und der daraus resultierende Druck strengen sie an.

Immer wieder zieht sie sich zurück. Sie hält sich für verträumt, fühlt sich manchmal wie von einem anderen Stern. Sie habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, sagen die Lehrer. Manchmal zu ausgeprägt. Dann kann sie schwer ertragen, wenn jemand schlecht behandelt wird, muss darüber sprechen. Heute weiß sie, dass sie sich viel stärker als andere in die Gefühlswelt ihrer Mitmenschen hineinversetzen kann. Dass sie ganz feine Antennen für deren Emotionen hat.

Das erste Mal gelesen hat sie vor gut sechs Jahren über das Thema Hochsensibilität. Nach Ansicht von Experten sind schätzungsweise 20 Prozent aller Menschen hochsensibel, das sind rund 1,5 Milliarden. „Ich habe Bücher über das Thema regelrecht verschlungen“, sagt sie. Da war schwarz auf weiß zu lesen, wie sie sich fühlt. Wie sie die Welt wahrnimmt. Das sei wie nach Hause zu kommen gewesen, beschreibt sie. Durch das Internet findet sie andere, denen es genauso geht. Vieles, das empfohlen wird, hat sie bereits selbst für sich entdeckt. Dass sie zum Beispiel dringend einen Rückzugsort braucht. „Als Kind und Jugendliche habe ich mein Zimmer geliebt.“ Dort kann sie die reizüberflutete Welt ausschließen, kann ganz für sich sein, den Sinnen erst einmal eine Pause gönnen.

Nach der Schule macht sie eine Ausbildung zur Erzieherin, schließt später eine Weiterbildung zur Heilpädagogin an. Sie trifft auf sensible Kinder. „Von hochsensibel spricht man bei Kindern noch nicht“, sagt sie. Aber oft sind es erste Anzeichen dafür, dass die Sinne auch später feiner sein werden. In den meisten Fällen wissen Eltern nicht, warum ihr Kind schüchtern ist. Viele suchen mit ihnen einen Kinderpsychologen auf. Nicht immer ist das nötig. Oft sind die Schüchternheit, das Verträumtsein nur eine Flucht, um den Reizen standzuhalten. „Wer weiß, wie Sensible funktionieren, kann seinem Kind ganz einfach helfen“, so die Löbtauerin. Mit ihm üben, besser auf seine Gefühle zu achten. Oder ihm Möglichkeiten geben, sich zurückzuziehen, für sich zu sein.

Genau das will Denise Brodbeck nun unterstützen. Sie hat Heilpädagogik studiert, mit Schwerpunkt Beratung und Coaching. „Ich hatte das Gefühl, dass ich anderen, die so sind wie ich, gut helfen kann.“ Heute begleitet sie hochsensible Menschen dabei, zu lernen achtsam zu sein und gut mit ihrer Sensibilität umzugehen. Schließlich könnte die auch eine Stärke sein. „Man muss eben nur wissen, wie sich dieses Potenzial gut entfalten und nutzen lässt.“ Auch Eltern von sensiblen Kinder berät sie und bietet Workshops an. Bei ihrem eigenen einjährigen Sohn schaut sie genau hin. Oft wird Hochsensibilität an die Kinder weitergegeben. „Er ist auf jeden Fall sehr mit seinen Sinnen in der Welt.“ Ober er hochsensibel wird? Abwarten. Aber wenn er es sein sollte, weiß sie, was sie ihm für sein Leben mitgeben kann.

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