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Mit der Zeitung auf Zeitreise

Das Rentner-Ehepaar Borschdorf aus Miltitz bekommt die Sächsische Zeitung, seit es sie gibt. Das freut einen besonders: ihren Zusteller.

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© Claudia Hübschmann

Von Dominique Bielmeier

Miltitz. Verteidigt das Leben! Die Überschrift des Titelthemas in der Sächsischen Zeitung ist ein dramatischer Appell: Die Wissenschaftler der Technischen Hochschule Dresden setzen sich dafür ein, „daß die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit“ nicht „zur Vernichtung des menschlichen Lebens und der Kultur mißbraucht werden“.

Eine SZ-Ausgabe aus dem Jahr 1954 zählt zum Zeitungsschatz der Familie Borschdorf.
Eine SZ-Ausgabe aus dem Jahr 1954 zählt zum Zeitungsschatz der Familie Borschdorf. © Repro/Hübschmann

Es ist das Jahr 1954, Sonnabend, der 10. Juli. Seit dem Frühjahr testen die Amerikaner und Russen Wasserstoffbomben, die Welt steht gefühlt am Abgrund. Auch die zweite Überschrift auf der Seite ruft deshalb Angst und Schrecken hervor: „Radioaktive Asche bedroht die Menschheit.“ Für heutige Ohren befremdlich ist auch der Hinweis, dass man die Atomenergie doch lieber „für friedliche Zwecke“ nutzen solle – in Atomkraftwerken.

Fast auf den Tag genau 63 Jahre später liegt das inzwischen ziemlich vergilbte, etwas fleckige und nur vier Seiten starke Blatt auf dem Wohnzimmertisch von Edith und Manfred Borschdorf in Miltitz. Draußen regnet es in Strömen, keine radioaktive Asche, sondern sauberes Wasser; die Hühner im Hof haben sich trotzdem dicht an dicht in den kleinen Stall gedrängt, wo der Regen nicht hinkommt.

Auch Borschdorfs haben es sich gemütlich gemacht auf dem großen Sofa gegenüber der dunklen Holz-Schrankwand, die gefüllt ist mit echtem Meissener Porzellan. Eine Wanduhr tickt in die Ruhe des Zimmers hinein, fast so, als wolle sie betonen, dass die Zeit hier eben doch nicht stehengeblieben ist – auch wenn es ein wenig den Anschein erwecken mag.

Die Senioren möchten heute etwas aus ihrem Leben erzählen, und das ist seit Jahrzehnten eng verbunden mit der SZ. „Ich glaube, mein ganzes Leben lang hatten wir schon die Sächsische Zeitung, die hatten wir nicht ein einziges Mal abbestellt“, sagt Manfred Borschdorf. „Auch meine Eltern nicht. Aber es ist eben viel weggeschmissen worden.“

Zwei Ausgaben aus dem Jahr 1954 haben überlebt. Damals war die Sächsische Zeitung noch das „Organ der Bezirksleitung Dresden der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“. Eine Ausgabe kostete 15 Pfennige, die Bilder waren klein, schwarz-weiß und vor allem selten.

Borschdorfs halten eine aktuelle Ausgabe dagegen. Statt Wasserstoffbomben wurde darin mit Wasser geworfen, und zwar auf dem G20-Gipfel in Hamburg, ein sächsischer Polizist erzählt, wie er die Ausschreitungen erlebt hat. Im schrecklichen Busunglück wird die Batterie für den Auslöser des Brandes gehalten. Heute ist das Papier weißer, die Fotos sind größer und bunt, „Genossen“ werden allenfalls noch im Scherz genannt. Der Name ist geblieben – und auch die Treue des Leser-Ehepaars.

„Die Sächsische Zeitung gehört einfach dazu – wie der linke zum rechten Schuh“, reimt der 77-Jährige. Das Paar stehe wegen der Tiere jeden Morgen zeitig auf, trinke einen Kaffee und dann sei schon die SZ an der Reihe. „Also erst mal das Grobe, was jetzt ganz wichtig ist, wie der Busunfall. Das interessiert doch jeden!“ Die großen Texte, wie Reportagen oder Porträts auf Seite drei, werden erst abends gelesen, ergänzt Edith Borschdorf, die ein Jahr jünger ist als ihr Mann.

Dafür, dass die Zeitung auch so früh im Briefkasten steckt, sorgt seit Jahren derselbe Zusteller. Das Ehepaar schätzt dessen Zuverlässigkeit so sehr, dass es ihm zu jedem Feiertag eine kleine Aufmerksamkeit an die Zeitungsrolle hängt. „Da freut er sich immer“, sagt Manfred Borschdorf und lächelt selbst.

Besonders gerne lesen die Rentner den Lokalteil, um zu erfahren, was in ihrer Gegend so passiert. Erst dann folgen Politik, Kultur oder Sport. „In der Weltpolitik können wir sowieso nicht mitreden“, sagt Manfred Borschdorf. Und wenn seine Frau Artikel über die Gemeinde Klipphausen lese, empfinde sie „schon einen gewissen Stolz“.

Ihr Mann arbeitete früher bei der LPG, fuhr Traktor, Lkw, „und, und, und“. Auch zu Hause hatte die Familie Vieh. „Da war der Tag manchmal ganz schön lang.“ Heute hält Borschdorf noch Schafe. Deshalb liest das Paar Geschichten über den Wolf in Sachsen mit besonderem Interesse. „Hier bei uns ist zwar noch nichts passiert, aber man hört es ja von anderen Gegenden“, so Edith Borschdorf.

Die Seniorin war früher Verkäuferin, arbeitete dann in der Verwaltung vom Konsum mit. „Ich habe dem Konsum in Meißen das Licht ausgemacht“, erzählt sie. „Das war ein bisschen traurig.“ Konsums oder Tante-Emma-Läden gibt es heute kaum noch auf dem Land. Gab es in Miltitz früher einmal drei Gaststätten, existiert laut Manfred Borschdorf heute keine einzige mehr. Post, Sparkasse, Blumenladen – alles verschwunden.

Die Zeiten haben sich geändert, nicht nur für die Zeitung. Wer kein Auto habe, sei auf dem Land fast aufgeschmissen, erzählt das Ehepaar. Borschdorfs haben ein Auto, und was für eines: einen Trabi. An der Eisenbahnbrücke in Meißen sei eine Gruppe Touristen einmal aus dem Fotografieren gar nicht mehr herausgekommen. „Die hatten wahrscheinlich noch nie einen Trabi gesehen“, sagt Manfred Borschdorf und lacht.

Beim Lesen der SZ ist ihm dagegen nicht immer zum Lachen zumute. Denn auch Traueranzeigen gehören für das Ehepaar dazu. „Da ist man manchmal traurig, weil man den einen oder anderen dann doch kannte“, sagt Edith Borschdorf.

Doch zum Glück gibt es auch das Gegenteil: Als der Urenkel geboren wurde, war er mit einem Bild in der Sächsischen Zeitung zu sehen. Ein Schnipsel, der natürlich ausgeschnitten und aufbewahrt wird. Genau wie Sonderausgaben oder besondere Geschichten. Als Barack Obama im November 2008 zum ersten schwarzen Präsidenten gewählt wurde, oder als Vladimir Putin im Februar 2008 in Dresden zu Besuch war, wanderten die SZ-Artikel dazu in die Sammlung der Borschdorfs.

Gibt es etwas, das die Senioren in der Sächsischen Zeitung vermissen? Manfred Borschdorf und seine Frau denken kurz nach. „Nein“, sagt er dann. „Wenn wir nicht zufrieden wären, hätten wir schon längst die Bild-Zeitung, aber das wollen wir nicht.“ Er lächelt verschmitzt. Seiner Frau fällt dann doch noch etwas ein: „Früher hat es manchmal noch eine Geschichte gegeben oder einen kleinen Roman. Da kam dann immer wieder mal eine Fortsetzung. Das war auch nicht schlecht.“

Für Manfred und Edith Borschdorf hält die Geschichte um ihre Beziehung zur Sächsischen Zeitung nun ein ganz neues Kapitel bereit: Zum ersten Mal sind sie selbst in der Zeitung. Der gedruckte Schatz dürfte damit um ein Blatt anwachsen.