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Mit den Klängen der Kindheit

Hilke Siegel aus Freital webt bunte Teppiche und Stoffe. Dabei setzt sie auf Recycling.

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© Andreas Weihs

Von Dorit Oehme

Freital. Durch die freien Scheiben fällt viel Licht. In der Ferne ist der Windberg zu sehen. Dicht am Fenster sitzt eine aufgeplusterte Amsel vorm Futterhäuschen. „Sie war vorhin schon einmal da“, sagt Hilke Siegel. Sie arbeitet seit einer Stunde an ihrem Handwebstuhl. Um etwa 15 Zentimeter ist ihr Flickenteppich an diesem Vormittag bereits gewachsen – bei einer Webbreite von 90 Zentimetern. Diese Breite ist mit dem klappbaren, soliden Webstuhl aus Kanada maximal möglich.

Stoffstreifen für Stoffstreifen führt Hilke Siegel zwischen den gespannten Fäden hindurch.
Stoffstreifen für Stoffstreifen führt Hilke Siegel zwischen den gespannten Fäden hindurch. © Andreas Weihs

Vorm Webstuhl hängen einfarbige und gemusterte Stoffstreifen, die die 76-Jährige zurechtgeschnitten oder -gerissen hat. Auf einem Holztisch steht ein Koffer. Daneben liegen ausrangierte Bettlaken und Kleidungsstücke. Sie sind nach Grundfarben sortiert. „Ich verwende für die Flickenteppiche ausschließlich Material, das normalerweise in den Lumpensack kommt“, sagt Hilke Siegel. Sie schränkt ein: „Ich nehme aber nur Baumwollstoffe und Jersey.“ Wollstoffe seien nicht geeignet. „Sie fransen zu sehr aus.“

Etwa 40 Flickenteppiche hat sie schon gewebt, für die Familie und Freunde. Einen sogar mit fünf Enkelkindern – in einer kreativen und doch gut strukturierten Ferienaktion. Mehrere Teppiche, einige in Regenbogenfarben, spendete sie auch für einen Basar der Hainsberger Hoffnungskirche. „Mich hat es kurz nach dem Rentenbeginn gereizt, mit dem Weben zu beginnen. Besonders für meine Enkel.“ 13 hat sie mittlerweile, davon sieben Enkelinnen. Hilke Siegel zeigt schlichte, edle Mädchenkleider aus Baumwollgewebe mit Abwandlungen des alten „Rosengang“-Musters, das sie noch heute nach Unterlagen ihrer Mutter webt. Die Baumwolle eines gelben Kleides stammt sogar aus Afrika.

Hilke Siegel ist in Erfurt aufgewachsen. Dort schaute sie ihrer Mutter schon beim Weben zu, hin und wieder ging sie ihr dabei zur Hand. Ihre Mutter, Jahrgang 1907, war Oberlehrerin für Gewerbeschulen. „Sie hätte Lehrerinnen ausbilden können. Ihren Beruf übte sie allerdings nie aus“, erzählt Hilke Siegel. Doch habe sie viele Handarbeitstechniken beherrscht. „Sie nutzte sie für unsere Familie, für uns fünf Kinder und später auch als Großmutter für die Enkel.“ Bis ins hohe Alter habe sie gewebt: „Den Webstuhl hat mein Vater für sie konstruiert und auch bauen lassen.“

Exakte Handarbeit

Vorsichtig holt Hilke Siegel ihr Hochzeitskleid samt Bolero aus dem Jahr 1966 hervor. Ihre Mutter hat den edlen Stoff dafür gewebt und beide Teile genäht. Unter der hohen Stuckdecke im Wohnzimmer hängen Gardinen, für die sie in Erfurt meterweise Occhi-Spitze gefertigt hat. Bei der ausgefallenen Technik wird der Faden auf ein Schiffchen gewickelt. Auf dem Klavier und diversen Schränkchen liegen passgenau gearbeitete Lochstickerei-Decken. Die Couch und die Sessel hat ein Polsterer mit Schafwollstoff überzogen, den Hilke Siegel nach Art ihrer Mutter gewebt hat. Die Wolle stammt von einem nahen Bauernhof. „Ich habe sie mehrmals gewaschen und dann an dem Spinnrad, das ich auch habe, gesponnen.“

Die studierte Diplom-Mathematikerin hat früher im Rechenzentrum des Freitaler Edelstahlwerkes gearbeitet. Nach längerer Familienzeit für ihre vier Kinder übernahm sie nach der Wende noch Verantwortung als Verwaltungsleiterin im Amt für Familie und Soziales in Dresden. Dass sie nun alte Handwerkstechniken pflegt, begeistert auch ihren Ehemann Ulrich Siegel, der in Werkstofftechnik promoviert hat. Er hat für den Webstuhl noch Zubehör und eine Bank gebaut. Ulrich Siegel hilft auch dabei, die Kettfäden zu spannen. Für feine Stoffe können das bis zu 720 Fäden sein. Jeder muss nach Mustervorlage noch speziell durch ein Litzenloch gefädelt werden. „Das dauert seine Zeit und muss ganz exakt sein“, betont er.

Der Webstuhl kann sogar im bespannten Zustand zusammengeklappt und in ein anderes Zimmer getragen werden. Im Winter webt Hilke Siegel besonders intensiv. Schafwollstoff für eine Jacke möchte sie demnächst beginnen. „Ihn muss ich dann auch ganz behutsam vernähen.“

Noch sind die 218 Kettfäden für gleich mehrere Flickenteppiche auf dem Webstuhl. Die Hobbyweberin greift zu einem Streifen, der an den Enden schon abgeschrägt ist. „Das ist wichtig, damit die Übergänge nicht zu dick werden“, sagt Hilke Siegel. Dann tritt sie mit den Füßen in die Holzpedale. Ein Teil der Kettfäden hebt sich – der andere bleibt unten. Es entsteht ein Zwischenraum, das Fach. Während Hilke Siegel für feine Wollfäden ein Schiffchen zum Transport benutzt, führt sie den Stoffstreifen jetzt mit bloßen Händen quer durchs Fach. Dann presst sie den frisch eingezogenen Streifen mit dem Kamm, der über die ganze Breite reicht, kraftvoll an das fertige Webstück an. Beim Anschlagen ertönt ein dumpfer Ton. „Die Klänge sind mir alle aus meiner Kindheit vertraut. Jetzt sind sie wieder da“, sagt Hilke Siegel und lacht.