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Mit 80 noch ein neues Hüftgelenk?

Medizinische Leistungen sind teuer. Wir müssen uns deshalb fragen, wie viel Gesundheit wir uns als Gesellschaft leisten wollen.

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© Foto: SZ/Jörg Schubert

Von Klaus-Peter Günther

Menschen in Deutschland werden bei besserer Gesundheit immer älter, und der medizinische Fortschritt leistet dazu einen wesentlichen Beitrag. Das ist erfreulich, hat aber Konsequenzen: Sowohl ein höherer Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung als auch medizinische Spitzenleistungen sind mit vermehrten finanziellen Aufwendungen für ein Gemeinwesen verbunden. Wir erleben zunehmend, dass die Diskrepanz zwischen dem (medizinisch) Machbaren und dem Bezahlbaren zu Frustrationen nicht nur von Patienten, sondern auch von Beschäftigten im Gesundheitswesen führt. Daher ist die Diskussion, wie viel Gesundheit sich unsere Gesellschaft leisten will, besonders wichtig.

Klaus-Peter Günther
Klaus-Peter Günther

Um die Finanzierungen der Krankenversorgung zu sichern, konzentrierte sich die Politik bisher auf ökonomische Steuerungsversuche. Beispiele sind die Einführung des Fallpauschalensystems oder die Deckelung von Budgets. Doch das führte nicht zur gewünschten Kostendämpfung, sodass in der Öffentlichkeit immer häufiger eine angebliche „Überversorgung“ bei unterschiedlichen Operationen als Kostentreiber angeprangert wird.

Bei einzelnen Erkrankungen nehmen deutsche Ärzte tatsächlich häufiger operative Eingriffe vor als unsere Nachbarländer. Beispiele dafür sind Herzkatheter, Bypässe, Gallenblasen- und Wirbelsäulen-Operationen. Ein angeblicher Anstieg in der Versorgung mit künstlichen Hüft- und Kniegelenken findet aber seit einigen Jahren nicht mehr statt. Derzeit ist es in der Bundesrepublik sogar zu einem Rückgang der Versorgungszahl mit künstlichen Gelenken gekommen, und die Implantationszahlen in Sachsen liegen zudem unter dem Bundesdurchschnitt. Gelenkersatz gehört nachweislich zu den wirksamsten medizinischen Behandlungsverfahren und gibt einer Vielzahl von Patienten ihre Lebensqualität zurück. Provokante Fragen wie „Keine künstliche Hüfte mehr für 80-Jährige?“ führen nur zu einer unnötigen Verunsicherung der Betroffenen und leisten keinen ehrlichen Beitrag zur Lösung des Problems.

Dennoch ist dringend eine Diskussion darüber notwendig, wie viel Gesundheit wir uns als Gesellschaft leisten wollen. Den Präsidenten der sächsischen Ärztekammer, Prof. Jan Schulze, treibt diese Frage zu Recht um, und er fordert gemeinsam mit der Bundesärztekammer eine verstärkte „Priorisierung“ im Gesundheitswesen. Darunter versteht man ein Verfahren, mit dem die Vorrangigkeit bestimmter besonders zuverlässiger und wirksamer Diagnose- beziehungsweise Behandlungsmethoden gegenüber anderen weniger wirksamen festgelegt werden soll. Auch der Behandlungsbedarf bei Patienten mit unterschiedlich schweren Erkrankungen kann damit eingeschätzt werden.

Der Begriff der Priorisierung wird oft zu Unrecht mit „Rationierung“ verwechselt, denn darunter versteht man das grundsätzliche Vorenthalten von medizinischen Leistungen, unabhängig von ihrer Wirksamkeit. Ein Beispiel ist die in Großbritannien lange geübte Praxis, Dialysebehandlungen nur bis zu einer bestimmten Altersgrenze zu finanzieren oder das Angebot an Hüftoperationen zu verknappen. Doch damit sind große Wartelisten entstanden.

Wenn man akzeptiert, dass finanzielle Ressourcen für die Gesundheitsversorgung begrenzt sind, kann die aktive Auseinandersetzung mit ihrer möglichst sinnvollen Verwendung eine Chance bieten, das Dilemma aufzulösen. Priorisierung ist tatsächlich ein möglicher Ansatz. In Schweden sind nationale Leitlinien und daraus abgeleitete Ranglisten für medizinischen Behandlungsbedarf erfolgreich als gesellschaftlich akzeptiertes Steuerungsinstrument eingeführt worden. Richtig angewendet würde das Instrument der Priorisierung auch uns eine Möglichkeit bieten, gemeinsam definierte Schwerpunkte in der medizinischen Versorgung zu entwickeln und damit an einer dauerhaft fairen Ressourcennutzung mitzuwirken. Für die erfolgreiche und von allen Beteiligten akzeptierte Einführung dieses Instruments gibt es jedoch eine Reihe von unverzichtbaren Voraussetzungen. Zu den wichtigsten gehören:

1. Gesundheitspolitik, Kostenträger und Ärzte müssen jenseits des täglichen Kleinkrieges um Kostendämpfung an einer gemeinsam getragenen Position zur Priorisierung arbeiten und die Bevölkerung für das Thema sensibilisieren.

2. Ranglisten-Kriterien für medizinische Maßnahmen müssen entwickelt werden. Basis dafür sind vier Säulen:

– Schweregrad einer Erkrankung – vor allem Beschwerden, Einschränkung der Lebensqualität und vorzeitiger Tod,

– Effekte der Behandlung für den Patienten, also erwartbare Verbesserung des Zustandes bzw. mögliche Nebenwirkungen,

– Kosten-Wirksamkeit – Verhältnis von Kosten und Nutzen einer Maßnahme – und

– wissenschaftliche Bewertung der Wirksamkeit (Daten aus hochwertigen klinischen Studien).

3. Die Bewertung dieser vier Kriterien und der daraus abgeleiteten Behandlungsnotwendigkeit bei einzelnen Erkrankungen darf nicht von Ärzten allein vorgenommen werden, sondern muss gemeinsam mit Experten unterschiedlichster Herkunft und Patienten- beziehungsweise Bürgervertretern erfolgen.

4. Sämtliche Schritte im Erstellungsprozess müssen absolut transparent sein und allen an der Gesundheitsversorgung beteiligten Gruppierungen die Möglichkeit zur Kommentierung bieten.

5. Eine Diskussion über Priorisierung muss geleitet sein vom unantastbaren Prinzip der Menschenwürde. Zwar können Personenmerkmale – etwa Alter, Geschlecht, Lebensstil – und Tätigkeit – beispielsweise körperliche Anforderungen im Rahmen einer Berufstätigkeit – eine individuelle Anpassung von medizinischen Maßnahmen erforderlich machen, aber:

Wenn wir diese etwas theoretischen Forderungen auf das ganz praktische Beispiel des 80-Jährigen mit einer Hüftarthrose anwenden, der vielleicht künftig gemeinsam mit seinem Arzt nicht nur vor der Frage steht, ob das künstliche Hüftgelenk notwendig ist, sondern ob die Operation auch von seinem Kostenträger bezahlt wird, kann eine konkrete Antwort gegeben werden: Die „Wirksamkeit“ des Kunstgelenks ist belegt, und es gibt wenige Maßnahmen in der Medizin, die eine ähnlich hohe „Kosteneffizienz“ haben, also viel Lebensqualität für vergleichsweise geringe Ausgaben bieten. Wenn der Patient also nachgewiesenermaßen starke Beschwerden hat, die individuellen Komplikationsrisiken für ihn akzeptabel sind und er gemeinsam mit seinem Arzt zur Einschätzung kommt, dass seine Lebensqualität mit guten Chancen durch die Behandlung verbesserbar ist, muss eine Bezahlung ohne Einschränkung sichergestellt sein.

Parallel zur notwendigen Diskussion über Priorisierung sollten wir uns aber auch bewusst machen, dass es auch andere Wege gibt, die Kosten im Gesundheitswesen zu bremsen. Dazu gehört der Beitrag, den jeder Mensch selbst leisten kann.

Prof. Dr. med. Klaus-Peter Günther ist Geschäftsführender Direktor des UniversitätsCentrums für Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Analysen und Interviews zu aktuellen Themen. Texte, die Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen.