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Messerattacke in der Wohngruppe

Wie im Wahn sticht eine Bewohnerin in Meißen auf einen Betreuer mit einem Küchenmesser ein. Der kann sich mit Mühe retten.

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Von Jürgen Müller

Was der 53-jährige Betreuer in einer Meißner Wohngruppe an jenem Novemberabend erlebt, gleicht einem schlechten Horrorfilm. Doch es ist kein Film, sondern real. Es ist schon gespenstisch, was der Mann, der Bereitschaft hat und wegen einer „Krise“ in der Wohngruppe alarmiert wurde, vorfindet. Überall liegt Müll herum, es gibt große Blutlachen. Eine Bewohnerin liegt apathisch im Bett, blutet stark, hat noch ein großes Küchenmesser in der Hand. Offenbar hat sich die damals 22-Jährige selbst verletzt. „Sie hatte viel Blut verloren, war schon ganz bleich. Ich wollte sie verbinden und Hilfe holen“, sagt er. Als er im Büro ist, um Verbandsmaterial zu holen, steht die Frau plötzlich in der Tür, stößt einen Schrei aus, den er noch nie gehört hat und der eher von einem Tier stammen könnte. Dann stürzt sie sich auf ihn, versucht mit dem Messer, ihn in die Herzgegend zu stechen. Geistesgegenwärtig greift der Betreuer nach einem Stuhl, wehrt die Stiche mit Mühe ab. „Ich hatte Todesangst. Sie war wie im Wahn, nicht in dieser Welt. Ich war erstaunt, welche Kräfte diese schmächtige Frau entwickelt hat“, sagt er. Er schreit sie an. Plötzlich lässt sie von ihm ab, geht wortlos in ihr Zimmer. Die kurz darauf eintreffenden Polizisten stürmen mit vorgehaltener Pistole in die Wohnung. Dort liegt die Frau wieder apathisch auf dem Bett. Sie wird notärztlich versorgt und in die Psychiatrie eingewiesen. Aus der Wohngruppe ist sie inzwischen rausgeflogen.

Die Tat geschah offenbar aus Liebeskummer. Ihre Freundin hatte sich nicht an eine Verabredung gehalten, ging mit einer anderen aus. Da betrank sich die Angeklagte, nahm außerdem Medikamente. Ein Facharzt für Psychiatrie spricht von einer psychischen Ausnahmesituation, in der sich die Frau befand. Damit allein lasse sich die Tat aber nicht erklären. Entscheidend seien der Alkohol und die Medikamente. Es sei davon auszugehen, dass ihre Steuerungsfähigkeit aufgehoben war. Das heißt, sie wusste nicht, was sie tat.

Hat sie der Stiefvater missbraucht?

Noch eine andere Körperverletzung wird ihr vorgeworfen. Die Frau soll mit zwei Mittätern ihren Stiefvater geschlagen haben. Der soll sie als Kind mehrfach missbraucht und misshandelt haben. Das Verfahren gegen ihn wurde allerdings von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Was ja nicht heißt, dass er unschuldig ist. Offenbar war doch etwas. So sollen Nachbarn aus dem Wohnwagen im Garten, in dem er mit dem Kind übernachtet hatte, Geräusche gehört haben, die nach einer Vergewaltigung klangen. Kurz darauf soll das Kind nackt und schreiend aus dem Wohnwagen gerannt sein. In einem anderen Fall soll er mit dem Kind gebadet und dabei ein erigiertes Glied gehabt haben. Zwei Frauen haben das bestätigt. Aber der Coswiger, der als Zeuge geladen ist, ist sich seiner Sache sehr sicher. „Es gibt ja keine Fotos davon“, sagt er und streitet die Taten im Übrigen ab. Doch die Stieftochter ist offenbar traumatisiert. Das erklärt, warum sie ihn 13 Jahre später zur Rede stellen will. „Meine Mandantin läuft seit Jahren mit einem Trauma durch die Gegend, missbraucht worden zu sein. Nicht sie, sondern der Zeuge gehört auf die Anklagebank. Er hat sich mit seiner Aussage geoutet“, sagt Verteidiger Andreas Maier. Auch der Psychiater Jörg Kühne spricht in seinem Gutachten von „jahrelangem Missbrauch und Misshandlung durch den Stiefvater.“ Der Verteidiger plädiert für diese Tat auf eine „milde Strafe“. Für die Sache in der Wohngruppe fordert er Freispruch. Seine Mandantin sei zum Tatzeitpunkt schuldunfähig gewesen. Auch wegen vorsätzlichen Vollrausches sei die Frau nicht zu bestrafen. Ursächlich für die Schuldunfähigkeit seien die Medikamente, nicht der Alkohol gewesen, argumentiert der Anwalt. Staatsanwältin Sabine Greiffenberg sieht das anders. „Die Angeklagte hat sich bewusst in einen Vollrausch versetzt und danach eine schwere Straftat begangen“, sagt sie und fordert eine Strafe von vier Monaten. Für die zweite Tat mit dem Stiefvater soll eine Haftstrafe von einem Jahr verhängt und eine Gesamtstrafe von einem Jahr und zwei Monaten gebildet werden.

Psychiatrie bleibt ihr erspart

Das Gericht bleibt nur knapp darunter, verhängt wegen gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlichen Vollrausches eine Gesamtstrafe von einem Jahr und einem Monat, die für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wird. Im Falle des Stiefvaters geht Richter Andreas Poth von einem „minderschweren Fall“ aus, weil die Gewalt gering und die Zeugenaussagen widersprüchlich waren. Damit entgeht die Angeklagte einer Einweisung in die Psychiatrie. Der Gutachter hatte zwar prognostiziert, die Gefahr sei relativ groß, dass es zu erneuten Straftaten kommt. Weil sie allerdings seit einem Jahr keinen Alkohol mehr trinke und weniger Medikamente nähme, sei diese Gefahr jetzt deutlich geringer.