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Mehr als nur Faulheit

Anna K. schwänzt die Schule, ihre Mutter musste deshalb am Freitag in Dresden vor Gericht. Kein Einzelfall.

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© Symbolfoto: A. Burgi/dpa

Von Sandro Rahrisch

Dresden. Sie rauchen im Park, ziehen durch Einkaufszentren und verlieren sich in Computerspielen. Schulschwänzer meiden das Klassenzimmer, wann immer es geht. Doch was ist, wenn mehr dahintersteckt als nur der Wunsch, mal ein, zwei Tage blauzumachen? Anna K.* liegt ständig im Bett und weint. Die 15-jährige Dresdnerin leidet unter starken Angstzuständen. „Sie hat gesagt: Ich kann da nicht hingehen“, erzählt ihre Mutter am Freitag dem Amtsrichter. Sabine K. soll zahlen, weil ihre Tochter nach Ansicht der Schule im vergangenen Schuljahr fast 40 Tage unentschuldigt gefehlt hat. Schulpflichtverletzung wirft ihr die Stadtverwaltung vor.

Insgesamt 435 solcher Ordnungswidrigkeitsverfahren hat das Rathaus im vergangenen Jahr gegen Eltern eingeleitet. Die größten Probleme gibt es an den Ober- und Berufsschulen mit jeweils etwa 170 Fällen, wie aus einer Kleinen Anfrage der Grünen-Landtagsabgeordneten Petra Zais hervorgeht. In 345 Fällen sind dann auch Bußgelder verhängt worden, teilt das Kultusministerium mit.

Gut 29 000 Euro sind somit in die Stadtkasse geflossen, etwa so viel wie 2015. Ob die Schüler dadurch den Weg zurück ins Klassenzimmer finden, kann sich Andreas Kutschke vom Sächsischen Umschulungs- und Fortbildungswerk Dresden (SUFW) nur schwer vorstellen. Der Verein arbeitet mit Schulverweigerern zusammen und versucht, sie mit praktischer Arbeit in einer Werkstatt sowie Theorie zum Lernen zu motivieren. Zweite Chance heißt das Projekt. 42 Kinder und Jugendliche sind dort im vergangenen Jahr betreut worden. Sie werden auch über den Sozialdienst der Stadt vermittelt.

„Bei manchen mag es sich wieder einrenken, aber die meisten werden nicht aus der Misere herauskommen, wenn Papa stillschweigend zahlt“, sagt er. Oft stecke mehr dahinter als banale Faulheit. „Einige sind überfordert, etwa weil die Eltern sie unbedingt auf das Gymnasium schicken wollten. Andere werden in der Schule gemobbt oder überwerfen sich mit ihren Lehrern.“ Dann sei Hilfe nötig.

Anna K. probierte es zunächst mit einem Wechsel an eine andere Oberschule. „Das hat leider nicht so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt hatten“, sagt die Mutter. Schon beim ersten Elternabend, als sie auf die Schwierigkeiten ihrer Tochter aufmerksam machen will, sei sie auf wenig Verständnis gestoßen. „Die Lehrerin meinte, dass jeder Probleme hätte.“

Sabine K. bringt ihre Tochter jeden Morgen zur Schule, um sicherzugehen, dass sie nicht schwänzt. Erst Ende September, etwa zwei Monate nach Schuljahresstart, habe sie erfahren, dass ihr Kind nicht mehr zur Schule geht. Sie begibt sich auf die Suche nach einem Kinderpsychologen. Inzwischen befindet sich Anna in Therapie.

Es gibt Hilfe

Allein in der psychosomatischen Abteilung der Neustädter Kinderklinik sind im Eröffnungsjahr 2015 bereits 35 Kinder und Jugendliche wegen Schulverweigerung behandelt worden. Inzwischen gibt es eine Warteliste für einen Platz. Viele der Patienten verspürten Angst, so die Mediziner. Sie fürchten sich unter anderem davor, von zu Hause weg zu sein. Der erste Altersgipfel bei Schulverweigerern liegt deshalb bei sechs Jahren – der Einschulungsphase. Einen weiteren Schub gibt es mit 13 Jahren, wenn die Teenager auf Realschule oder Gymnasium wechseln, sich von Freunden trennen und neue finden müssen und obendrein noch in die Pubertät kommen. Auch die Scheidung der Eltern könne Trennungsangst auslösen. Bauchschmerzen, Kopfschmerzen und sogar Übelkeit sind oft die Folge. In einer sechswöchigen Therapie versuchen Ärzte und Psychotherapeuten in Neustadt zunächst herauszufinden, warum sich die Kinder der Schule verweigern. Anschließend lernen sie, wieder mit den täglichen Ritualen klarzukommen: pünktliches Aufstehen und Unterricht – alles auf freiwilliger Basis.

„Der Bedarf an Angeboten für Schulverweigerer ist da“, sagt Andreas Kutschke vom SUFW. „Keine Stadt sollte sich hinstellen und sagen: Das brauchen wir nicht.“ Das Projekt Zweite Chance sei bis Ende des Jahres finanziell gesichert. Nicht mit den Bußgeldern der Eltern. Die Einnahmen werden laut Kultusministerium nicht für bestimmte Zwecke verwendet.

Sabine K. hat Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt. Mit Erfolg, denn das Verfahren ist am Freitag eingestellt worden. Das Gericht erkannte die gesundheitlichen Probleme von Anna an, außerdem das Bemühen der Mutter, Hilfe zu organisieren und mit dem Jugendamt zusammenzuarbeiten. Anna werde es ohnehin schwer haben, wieder an eine Schule zu gehen, schätzte der Richter ein.

* Name geändert