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Matrosen eroberten den Weinberg

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges bestand eine Seeberufsfachschule, wo heute das Stadion der Freundschaft liegt.

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Von Ralph Schermann

Helmut Gay ist im Görlitzer Sonnenland aufgewachsen. Er weiß heute noch, dass ihm dort als Kind Matrosen in ihren schmucken Uniformen imponierten. „Nur als sie auf dem Hügel hinter unserer Siedlung im Winter Ski fahren lernten, stellten sich einige weniger elegant an“, erinnert er sich.

Matrosen am Weinberg? Es gab sie tatsächlich. Als die SZ jüngst über den Bau des Stadions der Freundschaft vor 60 Jahren am Inselweg berichtete und dabei über dort nach 1945 genutzte Umsiedlerbaracken schrieb, gab es prompt Leserhinweise auf eine noch frühere Nutzung. Über diese Geschichte jener Fläche unterhalb des Weinberghauses soll es heute gehen.

Wumag baute für die Marine

Ab 1942 hatten nämlich genau auf dem späteren Stadiongelände Matrosen das Sagen. Wolfgang Pickert, Jahrgang 1930, war einer von ihnen. In seinem ins Internet gestellten Lebenslauf erinnert er sich: „Wasser und Schiffe faszinierten mich. Da war ich Feuer und Flamme, als jemand in der 7. Klasse auftauchte und einen Werbevortrag für eine neue Einrichtung hielt: Seeberufsfachschule. Dort sollte der Offiziersnachwuchs der Handelsmarine ausgebildet werden. Zunächst vier Jahre Grundausbildung, dann Fahrenszeit und Studium, um als Endziel Kapitän oder Chefingenieur auf großer Fahrt zu werden.“

Wolfgang Pickerts Eltern meldeten ihren Sohn an, der mit 14 Jahren eine Eignungsprüfung bestand und nach Görlitz kam: „Hier wartete ein Barackenlager auf uns. Wir wurden auf Stuben zu je acht Mann eingeteilt. Nach dem Wecken mit der Bootsmannspfeife und dem gemeinsamen Waschen begann der tägliche Dienst: Antreten, marschieren zur Werkstatt, arbeiten, marschieren zur Essbaracke, marschieren zur Werkstatt, arbeiten, Alltag. Die Werksausbildung wurde durch qualifizierte Altgesellen und Meister geleitet, denn zuerst sollten wir einen Abschluss als Betriebsschlosser machen. Es gab aber auch seemännische Unterweisung in Knoten, Spleißen, Winken. Natürlich gehörte auch die ideologische Einflussnahme in diese Zeit.

Wir Jungen hatten immer Appetit. Wir hatten eine einigermaßen gute Verpflegung. Mittags gab es Pellkartoffeln. Aber neben unserem Lager befand sich ein Gefangenenlager für russische Soldaten. In einer Mulde gelegen, ohne Wetterschutz, vegetierten diese Menschen. Wir marschierten jeden Tag daran vorbei und konnten die ausgemergelten Gestalten sehen. Voller Mitleid warfen wir extra aufgehobene Essensreste wie Brot und Kartoffeln hinunter, um die sich die Gefangenen rauften. Es war uns zwar streng verboten, dies zu tun, doch wir konnten nicht anders.

Hinter dem einfachen Holzzaun des Lagers träumten wir von einer großen Zukunft und sahen uns schon als Seeleute. Wenn wir Ausgang hatten, besuchten wir Görlitzer Kinos. Ein Film mit Marika Rökk war mal für Jugendliche unter 18 Jahren verboten, doch an der Kasse hielt man uns in unseren Uniformen immer für älter. Das Aus für dieses Lager hörten wir dann 1945: Ein dumpfes Grollen lag in der Luft. Die Front kam näher.“

Gelbe Farbe am falschen Ort

Auch Rolf Preller besuchte diese Handelsmarineschule. Nach verschiedenen anderen Standorten kam er 1944 nach Görlitz. Den Sinn dieses Standortes erläutert er mit der Wumag, der Waggon- und Maschinenbau AG, wo damals auch Schiffsmaschinen entstanden. Marineschüler sollten also die Technik von der Pike auf lernen. Rolf Preller kam in die Abteilung, die Schieber und Zylinder von Dampfmaschinen bearbeitete: „Die erworbenen Kenntnisse habe ich später dann an Bord und auch auf Lokomotiven gut gebrauchen können.“

Das Lager am Inselweg wurde von Korvettenkapitän Stüwe geleitet, später von Kapitänleutnant Metzger, dazu gab es weitere drei Offiziere, einen Verwaltungsmitarbeiter sowie acht Maate und Obermaate. Auch Rolf Preller erinnert sich an das Skitraining, für Matrosen völlig ungewöhnlich. „Auch fuhren wir mal mit Straßenbahn-Sonderwagen zur Landeskrone“, weiß er noch und dass „die Brettl nach einem Aufruf von Görlitzer Bürgern gespendet wurden.“

Da machte der Arbeitsdienst in der Wumag schon mehr Spaß, weil dort „auch viele junge deutsche Frauen dienstverpflichtet waren“. Vor allem die jugendlichen Streiche bleiben ihm unvergessen: „Ich kroch unter den Werkbänken durch und bemalte die Schuhe der Frauen mit gelber Farbe“, schmunzelt er. Das Schmunzeln verging ihm damals aber sehr schnell, als die Frauen ihn erwischten, packten, ihm die Hosen herunterzogen und sein bestes Stück als Revanche gelb anstreichen wollten.

Später lachten alle gemeinsam darüber und besuchten auch schon mal zusammen Görlitzer Einrichtungen. „Zum Beispiel gab damals Zirkus Busch ein Gastspiel.“ Auch das Ende der Marineschule Görlitz weiß Rolf Preller noch genau: „Anfang Februar 1945 war die Auflösung, und wir wurden nach Wilhelmshaven verlegt.“

Neuer Zweck für die Baracken

Die Baracken dienten nach Kriegsende als Quarantäne- und Umsiedlerlager. „Täglich kamen diese Menschen zu uns betteln“, weiß Helmut Gay vom Sonnenland noch. Im Mai 1945 wurden in Görlitz insgesamt neun solche Lager mit insgesamt 4600 Plätzen betrieben, darunter auch das Palast-Theater, dessen Sitzreihen man zeitweise ausbaute. Ab Januar 1946 konzentrierte sich die Unterbringung Vertriebener auf drei Lager mit 3700 Plätzen – das Reichertlager, das Schützenhaus-Lager und das ehemalige Marinelager. Dazu kam im August 1946 noch das Lager Lessingschule mit 1150 Plätzen. Auch an der Rothenburger Straße bestand damals ein Barackenlager. Am Inselweg verschwanden diese Bauten mit der Planung des Stadions. Teils wurden sie auch umgesetzt, eine fand zum Beispiel eine neue Verwendung als Scheune in einem Grundstück auf der Landheimstraße. Dort, wo heute das Hauptspielfeld des Stadions zu finden ist, trafen die Bauleute 1951 auf einen Lagerbunker aus Beton, dessen Abbau Schwierigkeiten bereitete. Längst ist er ebenso nur noch Erinnerung wie die einstige Görlitzer Marineschule.