Merken

„Manche Schicksale sind schwer auszuhalten“

Sozialarbeiterin Aliki Reyes mischt sich täglich unter Jugendliche. Drogen und Gewalt seien nicht wegzudiskutieren. Doch es gibt auch Lichtblicke.

Teilen
Folgen
© Claudia Hübschmann

Meißen. Das erste reichliche halbe Jahr als Streetworkerin in Meißen liegt hinter Aliki Reyes. Die Erziehungswissenschaftlerin und Soziologin ist für die Stiftung Soziale Projekte Meißen tätig – und nahezu rund um die Uhr für die Belange der Jugendlichen da. Das Wichtigste, sagt sie, sei es, Vertrauen aufzubauen, ein offenes Ohr für die Probleme der 14 bis 27-Jährigen zu haben. Bei mehr als 250 Meißnern hat sie das bereits geschafft. So viele sind es, die regelmäßig Hilfe und Rat bei Reyes suchen. Geht es nach der 36-Jährigen, sollen es bald dreimal so viele sein. Warum das ein schwer zu erreichendes Ziel ist, wo sie sich abends alleine in Meißen nicht aufhalten würde und weshalb sie niemals die moralische Keule gegenüber Jugendlichen schwingen will, sagt Reyes im Interview mit der SZ.

Frau Reyes, wie ist nach einem halben Jahr ihr Eindruck von der Meißner Jugend? Was sind die typischen Probleme?

Es ist wichtig für die Jugendlichen, Orientierung zu finden und etwas, wofür sie sich einsetzen können. Einige haben so etwas nicht, leben in den Tag hinein, weil vielleicht eine Ausbildung fehlt. Sie versuche ich zu erreichen und im besten Fall zu unterstützen. In Meißen spielen nach meiner Erfahrung vor allem finanzielle Probleme, Arbeitslosigkeit, Ärger mit den Eltern oder in der Schule, aber auch Drogenkonsum oder Wut und Hass auf Andersdenkende und – das kommt leider auch vor – auf Geflüchtete eine Rolle.

Mit welchen Drogen haben die Jugendlichen denn zu tun, wie kommen sie an das Zeug ran?

Hauptsächlich sind es Crystal und Cannabis, die konsumiert werden. Die Frage, wie genau und wo sie an die Drogen kommen, ist schwer zu beantworten. Das ist natürlich auch ein sensibles Thema. Selbst habe ich in der Hinsicht auch noch nichts beobachtet. Von Berichten der Jugendlichen weiß ich aber, dass es rund um den Wilhelm-Walkhoff-Platz und den Käthe-Kollwitz-Park im Triebischtal, aber auch auf der anderen Elbseite in den Seitenstraßen nahe der Pestalozzischule schon Beobachtungen in dieser Richtung gab. Auch die Eisenbahnbrücke in Veränderung der Obergasse gilt als Umschlagplatz. Aber: Oft trinken diejenigen, die sich an diesen Orten aufhalten, auch nur ein paar Bier zusammen und treffen sich ganz normal.

Gibt es einen Ort, wo Sie sich nach 22 Uhr als Frau nicht mehr aufhalten würden?

Vielleicht wäre das tatsächlich die Eisenbahnbrücke. Spät abends alleine würde ich mich wahrscheinlich nicht dorthin begeben. Aber es ist auch nicht so, dass hier täglich schwere Verbrechen passieren. Von Gewaltdelikten habe ich zum Beispiel bisher fast nichts mitbekommen.

Klingt trotzdem nicht danach, dass es große Freude macht, in Meißen Streetworkerin zu sein?

Doch, das tut es! Es gibt ja auch sehr viele positive Beispiele. Es macht Spaß zu sehen, wie sich junge Menschen mit ein bisschen Hilfe plötzlich unheimlich in ihrer Gemeinschaft und darüber hinaus auch gesellschaftlich engagieren. Ein schönes Beispiel ist unser neuer Basic-Kochkurs in der Johannesstraße 9. Die Idee haben wir zusammen mit einer jungen Schülerin entwickelt, die sehr engagiert ist. Insgesamt ist aber festzustellen, dass es eine Vakanz zwischen Gymnasiasten und Ober- oder Hauptschülern gibt. Gesellschaftlich engagiert sind häufiger Gymnasiasten. Allerdings ist dort die Erziehungssituation meist eine andere, die Unterstützung von den Eltern gegeben. Das ist vergleichsweise häufig bei anderen Bildungseinrichtungen nicht so. Hier begegnen auch mir manchmal Fälle von Verwahrlosung oder Ausgrenzung. Manche Schicksale sind schwer auszuhalten.

Wo treffen Sie die Jugendlichen und wie helfen Sie Ihnen konkret?

Ich bin die meiste Zeit des Tages in der Stadt unterwegs – das sagt ja schon der Name meiner Tätigkeit. Entweder zu Fuß oder mit einem Privat-Pkw. Meistens treffe ich Schüler oder junge Erwachsene dort, wo sie es möchten. Das kann mal in einem Park sein, mal in einem Café. Möglich ist natürlich auch ein Termin bei mir im Büro auf der Nossener Straße 46. Doch das nutzen die Jugendlichen weniger. Bisher ist es vielleicht dreimal vorgekommen. In Kontakt bleiben wir über Whatsapp oder die sozialen Medien. Ich helfe, indem ich Gruppenarbeit oder Einzelfallhilfe organisiere, Angebote wie Freizeittreffs und AGs schaffe, Hilfesuchende und Angehörige berate. Häufig begleite ich diese zu Behörden, helfe bürokratische Hürden zu überwinden.

Dazu braucht es sicher Institutionen, mit den Sie eng zusammenarbeiten. Welche sind das?

Hauptsächlich Erziehungs- und Suchtberatungsstellen. Wichtig sind z. B.. enge Kontakte zur Mobilen Drogenfachkraft der Diakonie, dem örtlichen Jobcenter, Schulsozialarbeitern und natürlich auch zu anderen Mitarbeitern innerhalb unserer Stiftung.

Benötigt es viel Mut oder besondere Eigenschaften, um auf Jugendliche zuzugehen, die vielleicht lieber in Ruhe gelassen werden wollen?

Zu meiner Tätigkeit gehört es, zu akzeptieren, wenn Jugendliche „Nein“ sagen. Ich dränge mich nicht auf, biete mich aber als Zuhörerin und Beraterin an. Das wissen inzwischen einige zu schätzen. Bisher habe ich 23 Einzelfälle, denen ich konkrete Hilfe vermitteln konnte. Kontakt gibt es zu gut 250 Jugendlichen. Meine Aufgabe ist es, Vertrauen zu schaffen. Das geht nur, indem wir eine Basis finden fernab von Druck oder moralischer Besserwisserei. Wer mit mir spricht, tut dies immer auf Augenhöhe – das ist mir wichtig. Was mir hilft, sind meine kommunikativen Fähigkeiten, aber auch ein Gespür für mein Gegenüber. Ich zwinge niemanden, sich mir zu öffnen. Aber wenn es passiert, dann umso besser.

Welche Veränderungen wünschen sich Schüler und junge Erwachsene in Meißen?

Ein größerer Jugendklub, in dem Tanzen genauso möglich ist wie einfach nur zu quatschen und eine Runde Billard zu spielen, fehlt noch. Viele fahren zum Feiern nach Dresden, oft mit dem Auto. Vielleicht findet Meißen noch einen geeigneten Ort für einen neuen Klub. Außerdem muss es noch mehr Möglichkeiten zur Teilhabe am öffentlichen Leben geben. Gegen Verdrossenheit und Ablehnung helfen positive Erlebnisse und Verantwortung. Die gibt es in Vereinen, Initiativen oder Jugendorganisationen.

Die Fragen stellte Marcus Herrmann.