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Märchenhaftes Meißen?

Walfriede Hartmann hat das neue Jahr begrüßt, wie sie das alte beschloss: mit einer Stadtführung. Manch Wundersames wie in den Geschichten der Brüder Grimm entdeckt sie bis heute in Meißen.

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Von Ulrike Keller

Für „die Meißnerin“ schlägts 13! Und das schon, als 2012 noch in den letzten Zügen liegt: Zum 13. Mal unternimmt Stadtführerin Walfriede Hartmann ihren beliebten Jahresendspaziergang. Diesmal unter gar märchenhaftem Vorzeichen. Wundersam luftig ist sie dabei gekleidet. „Ich trage immer eine Lage weniger als meine Gäste“, erzählt sie und eilt voraus. Sie sei ja die ganze Zeit in Bewegung. Und auch bei den Absätzen übertrifft sie in der Regel die höchsten in der Gruppe um fünf Zentimeter. Das ist ihre Strategie, langsamer zu laufen als normal. Ihren über 3 000 Gästen im Jahre 2012 wird es entgegen gekommen sein. „Folgt mir“, sagt sie förmlich und ergänzt keck. „Das ist das Schöne an dem Beruf!“ Hartmann ist blitzschnell im Kopf. Und, treppauf, treppab, in den Beinen.

Kurzer Halt an der Kreuzung von Burgstraße und Schlossberg, dem „Fernstraßendreieck des Mittelalters“. Walfriede Hartmann zieht eine kleine Leinenrolle hervor und entwickelt sie rasch. Das Bild darauf hält sie zum direkten Vergleich in Richtung Hohlweg. Das märchenhafte Motiv auf dem Stoff zeigt unverkennbar: Hier ist Meißen ins Märchenbuch geklettert. Klettern ließ es Ludwig Adrian Richter. Von 1825 bis 1836 lebte er in Meißen. Seine Skizzen aus dieser Zeit holte er später aus der Schublade, als er den Auftrag erhielt, die Märchen der Brüder Grimm zu illustrieren. „Hase und Igel“ zum Beispiel, „Froschkönig“ oder auch „Rotkäppchen“. Doch das kleine feine Richter-Museum im Torhaus der Stadt wurde 2012 geschlossen. Vom Schlossberg kommend, drängelt eine Limousine per Gaspedal. Viele Navis führen die Roten Stufen hinauf, weiß Walfriede Hartmann. Dieses anscheinend nicht. „Aber TomTom & Co. heißen die Kobolde der Neuzeit“, sagt sie amüsiert.

Die Meißnerin zählt zu den bekanntesten Gästeführerinnen der Stadt. Schon als Konfirmandin lotste die Germanistentochter Besucher fachwissend durch den Dom. Der Spruch „Wissen macht hungrig“ gehört zu ihren liebsten. Während ihrer ersten Schwangerschaft, 1981, ließ sich die studierte Bibliothekarin an der Volkshochschule zum Stadtbilderklärer ausbilden. Von da an ging sie sporadisch mit Kindergartengruppen auf geschichtliche Erkundungstour durch Meißen.

Auch nach der Wende machte sie nebenbei für die Touristinfo Stadtrundgänge. Bis sie 1994 den Hafenstraße e.V. als Partner entdeckte. Dort baute sie ihre Ideen aus, erfand unter anderem die Stadtspaziergänge. Zur Premiere kam kein einziger. Heute ist sie noch Mitglied in der Hafenstraße, aber bereits im neunten Jahr selbstständig tätig. Inzwischen sind Anmeldungen nötig, um die große Nachfrage zu steuern. Zum Jahresendspaziergang gibt Walfriede Hartmann die Biedermeierdame. Auf dem Kopf trägt sie eine Schute und am Körper ein Salonkleid mit Mantille. Das Kleid nennt sie „grünes Ungeheuer“. Der Saum schleift auf dem Boden. „Gereinigt hat man die Wege auch nicht“, echauffiert sich Grimm-Figur Meister Pfrim. „Doch, ich bin schon dabei“, reagiert geistesgegenwärtig „Gevatterin“ Hartmann. In der Rolle der Botenfrau, die sie – mit weißer Haube, Wolltuch und Kiepe – auch für den Neujahrsspaziergang gewählt hat, läuft die 54-Jährige im Sommer sogar barfuß. „Meißen ist sauberer geworden“, so ihr Eindruck. Dass sie am Waltersbrunnen, wo nun der Teufel mit den drei goldenen Haaren schnarcht, bei der Vorbereitungsvisite Hundehaufen wegräumte, ist schon passiert, aber die Ausnahme.

Am Waltersbrunnen geht flammenroter Likör herum, in der Mauer stecken gute Wünsche. Solch liebevolle Details mögen heutzutage bei Stadtführungen verbreitet sein. Walfriede Hartmann übernahm sie schon zu DDR-Zeiten von ihrem Lehrmeister Gottfried Schneider.

Der märchenhafte Stadtspaziergang führt über den Seelensteig. Hier verziert der Buchstabenstein das Gemäuer. Ein „historisches Graffito“, das wundersam verschlungen alle Lettern des Alphabets enthält. Walfriede Hartmann hat Spaß daran, mit der Gruppe zu jedem Anfangsbuchstaben jeweils einen Grimm-Titel aus dem Gedächtnis hervorzukramen.

Märchenhafte Parallelen sieht sie viele in der Meißner Stadtchronologie 2012: Der Domherrenhof ist aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Der neue Elbdamm an der B6 erinnert sie an die Geschichte „Vom Fischer und seiner Frau“. Vielleicht können auch wir gegenüber der Natur nie genug kriegen? So fragt sie sich auch, weshalb man nicht einige Brachflächen einfach ruhen lassen kann. „Ich bin mir nicht sicher, ob die Arkaden in 20 Jahren besser aussehen werden, als es die Fläche vor fünf Jahren tat.“

Ein frisches Graffito ist ihr im Vorderen Burgtor begegnet. Das Männlein hat sie per Handy fotografiert und ihren Freunden als Suchbild geschickt. Ärgern kann sie sich darüber nicht. Wenngleich sie registriert: „Graffiti bleiben länger dran als früher.“

Mit wachem Blick wandelt Walfriede Hartmann auch im neuen Jahr durch die Jahrhunderte der Stadtgeschichte. Zum Thema „150 Jahre SPD“ nimmt sie einen weiteren politischen Stadtspaziergang hinzu. Den märchenhaften hofft sie fortsetzen zu können, mit all den so engagierten Beteiligten. 60 Stadtführungen von ihr stehen bereits fest. Und so setzt sie ihr 2013 unter das Motto: „Als das Wünschen noch geholfen hat!“