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Luthers Licht

Als Karl-Ernst Henke geboren wurde, war um ihn herum fast jeder evangelisch. Nun gehört er zu einer Minderheit.

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© Pawel Sosnowski/pawelsosnowski.c

Von Frank Seibel

An Kerzen mangelt es nicht. Ausnahmsweise zündet Karl-Ernst Henke den Kreis von Lichtern mitten in der Woche an. Und ausnahmsweise nicht im Anzug, sondern im karierten Hemd und mit wattierter Jacke. Nach und nach erhellen die Kerzen den bauchigen Raum der kalten Kirche. Normalerweise leuchten die Kerzen nur sonntags, wenn hier Gottesdienst gefeiert wird. Zum Glück werden noch Gottesdienste gefeiert unter der großen Kuppel, die, getragen von rot geklinkerten Wänden, das Quartier zwischen Bahnhofstraße und Kaisertrutz überragt.

Das ist nicht selbstverständlich in einer Gemeinde, die innerhalb eines Vierteljahrhunderts um drei Viertel der einstigen Mitgliederzahl geschrumpft ist. Vielleicht ist es sogar hier im Quartier noch dramatischer. Aber seit 2002 ist die Lutherkirche nicht mehr das geistliche und geistige Zentrum einer eigenen Gemeinde, sondern eine von vier Kirchen der evangelischen Innenstadtgemeinde: Peterskirche, Dreifaltigkeitskirche, Frauenkirche und eben die Lutherkirche als jüngste im Bunde. Im Mai 1901 geweiht, war sie damals die erste evangelisch-lutherische Kirche seit der Reformation, die in Görlitz errichtet wurde. Mitten im schnell wachsenden Gründerzeitviertel markierte sie Stolz, Selbstbewusstsein und Zuversicht einer Stadtgesellschaft, in der die meisten sich als evangelische Christen bekannten.

Karl-Ernst Henke kam 1946 dazu. Da wurde er unweit der Kerzen getauft, die er an diesem Tag nur für den Fotografen der Zeitung anzündet. Der Pfarrer damals war ein strenger Mann, eine Respektsperson, erzählt Henke. An seine Taufe kann er sich natürlich nicht erinnern, aber an seine Konfirmation im Mai 1961. Da war Pfarrer Kurt Schulz immer noch im Dienst.

Großer Einschnitt 2002

Die Kirche gehört für Karl-Ernst Henke zum Leben, in doppeltem Sinn. Einerseits wohnt er genau gegenüber, hört seit 71 Jahren die Glocken und ist aktives Gemeindemitglied. Andererseits war die Lutherkirche immer auch ein willkommener Auftraggeber für den Baubetrieb, den Henke von seinem Vater übernommen hat und bis zum eigenen Ruhestand führte.

Wie oft der dem stolzen Bauwerk aufs Dach gestiegen ist, kann Henke heute nicht mehr zählen. Er weiß nur, dass er 15 oder 16 Jahre alt war, als er das erste Mal in den Sommerferien oben war und bei Zimmererarbeiten geholfen hat. Mittlerweile kennt er jeden Winkel nicht nur „seiner“ Lutherkirche, sondern aller vier evangelischen Innenstadt-Kirchen. Denn Karl-Ernst Henke ist Vorsitzender des Bauausschusses der Innenstadtgemeinde. Und er hat in diesem Ehrenamt gut zu tun. Zurzeit arbeiten Handwerker mit viel Lärm an der Sanierung der Ostfassade der Lutherkirche; noch wenige Monate, dann wird die Außensanierung abgeschlossen sein.

Bald sollen dann die Türme der Peterskirche eingerüstet werden, um dort Schäden zu beseitigen. Und die Sanierung der Frauenkirche, die mögliche Modernisierung der Dreifaltigkeitskirche, die vielleicht teilweise zu einem Museum für Jakob Böhme umfunktioniert werden wird: Baulich gesehen, ist ganz schön viel Kirche in Görlitz. Aber eben nur baulich. Die einzige Kirche, in der wirklich jeden Sonntag ein evangelischer Gottesdienst gefeiert wird, ist in der Innenstadt die Peterskirche. Bis Weihnachten kann Karl-Ernst Henke nur fünfmal in „seiner“ Kirche Gottesdienst feiern.

Natürlich steht am 31. Oktober, dem 500. Jahrestag von Martin Luthers Thesenanschlag in Wittenberg, die Lutherkirche mit einem Gottesdienst im Plan. Und Karl-Ernst Henke hat „Dienst“. Seit 32 Jahren gehört er zu einem kleinen Team von ehrenamtlichen Helfern, die als Küster beim Gottesdienst helfen. Dann wird er sich einen Anzug anziehen und die Kerzen anzünden, von denen die Kinder sich ein Licht mitnehmen, bevor sie zum Kindergottesdienst aus dem großen Kirchenraum ausziehen.

Karl-Ernst Henke ist viel zu emsig, um sentimental zu werden. Aber natürlich hat er sehr genau miterlebt, wie sich das Leben als evangelischer Christ in der Görlitzer Innenstadt verändert hat. Sieben Pfarrer gab es noch in den 1980er Jahren. Und in jeder Kirche wurde allwöchentlich Gottesdienst gefeiert. Jetzt gibt es zwei Pfarrstellen, und drei von vier Kirchen stehen oft leer. Erstaunlich ist, dass das Gemeindeleben erst nach dem Ende der DDR wirklich in die Krise geriet, zumindest zahlenmäßig. 10 000 evangelische Christen lebten 1990 in der Innenstadt. Heute sind es noch 2 500. Allerdings waren es 1950 noch 7 000 bis 10 000 Menschen für jede der vier Kirchgemeinden in der Innenstadt. Karl-Ernst Henke hat im Laufe seines Lebens einen wirklich dramatischen Wandel erlebt – der allerdings erst mehr als zehn Jahre nach der friedlichen Revolution für jeden evangelischen Christen ganz unmittelbar spürbar wurde.

Als Henke ein Kind und ein Jugendlicher war, da waren die meisten Familien noch kirchlich geprägt, obwohl dies die Ära eines besonders rigiden Kommunismus war. Der führte dazu, dass Kinder und Jugendliche der nächsten Generation lieber bei den Jungen Pionieren mitmachten als bei der Jungen Gemeinde. Aber bis in die 1980er Jahre waren Gemeindegruppen und Bibelkreise noch gut besucht, sagt Henke. Moderne Medien spielten noch keine Rolle, das Freizeitangebot war nicht so überbordend wie heute. Als ab 1990 auf einmal die Kirchensteuer auf den Lohnzetteln auftauchte, begann eine neue Welle von Austritten. Um das Jahr 2 000 war klar, dass nicht mehr jede Kirche wöchentlich für Gottesdienste genutzt werden kann. Aus vier Gemeinden wurde eine. Ein tiefer Einschnitt.

Seit Kurzem wächst zwar die Bevölkerung der Innenstadt. Aber davon kann die evangelische Kirche nicht profitieren. Denn neu in die Stadt kommen vor allem Polen und Flüchtlinge. Heute ist die Zahl der Ausländer höher als die Zahl der evangelischen Christen. Im September zählte die Innenstadt 16 800 Einwohner, von denen 3 350 keinen deutschen Pass hatten. Weil aber die evangelisch-lutherische Kirche vor allem eine deutsche Institution ist, verschieben sich die Gewichte rund um die Lutherkirche immer mehr. Ganz anders übrigens sieht es für die katholische Gemeinde aus. Die hat Zulauf, weil Polen in der Regel katholisch sind.

In all diesen Wandlungen ist Karl-Ernst Henke ein ruhender Pol. Immer da, auch wenn die Pfarrer kamen und gingen. Irgendwann war es mal soweit, dass sich der zuständige Pfarrer nicht mehr daran erinnerte, dass in der Lutherkirche von jeher am Karfreitag um 15 Uhr, zur Sterbestunde Jesu, die Glocke geläutet wird. Da hat Karl-Ernst Henke den Schlüssel genommen, ist über die Straße gegangen und hat selbst dafür gesorgt, dass diese Tradition nicht abreißt. Das macht er heute noch so. Und zu Silvester lässt er die Glocken der Lutherkirche ins Stadtgeläut mit einstimmen. Weil es einfach dazugehört.

Zur Reformationsfeier laden Görlitzer Christen am Montag, 30. Oktober, ab 19 Uhr ins Wichernhaus ein. Für 5 Euro gibt‘s ein deftiges Abendessen, serviert von „Katharina Luther“, Musik und Gespräche. „Plauderei an Luthers Tafel“ ist das Motto der Veranstaltung. Karten gibt es u.a. im Kaisertrutz und der Comenius-Buchhandlung.