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Der 600-Millionen-Euro-Auftrag

Der noch im November totgesagte Anlagenbauer errichtet in Texas eine Chemiefabrik - und seine 450 Beschäftigten schöpfen neuen Mut.

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© Linde Brand Portal

Von Michael Rothe

Gute Nachricht für die 450 Beschäftigten von Linde Engineering in Dresden. Der Technologieriese baut unter Federführung der Sachsen im US-Staat Texas eine große Chemiefabrik. Wie die SZ aus der Konzernzentrale in München erfuhr, entsteht die Polypropylenanlage in La Porte bei Houston. Polypropylen ist einer der gängigsten Kunststoffe auf Erdöl- bzw. Propenbasis. Aus dem Granulat werden auch Verpackungen und Behälter hergestellt. Auftraggeber ist Braskem, größter Hersteller thermoplastischer Kunstharze in Amerika. Die Online-Plattform Chemical Engineering beziffert das Investitionsvolumen mit umgerechnet 590 Millionen Euro. Der Auftrag umfasse Planung, Beschaffung und Errichtung der Anlage. „Der Standort Dresden ist für die gesamte Projektkoordination verantwortlich“, sagt ein Konzernsprecher. Baustart sei in Kürze, die Fertigstellung für das erste Quartal 2020 vorgesehen.

Braskem ist eines der weltgrößten Chemie- und Kunststoffunternehmen mit 41 Industrieanlagen in Brasilien, den USA, Deutschland und Mexiko. Laut Mark Nikolich, Vorstandschef für Nordamerika, wurde Linde in einem „strengen Selektionsprozess“ ausgewählt. Mit mehr als 4 000 gebauten Anlagen in über 100 Ländern bringe Linde seine umfassende Expertise im internationalen Großanlagenbau.

Projekt schafft 1 000 Jobs in den USA

Christian Bruch, der im Linde-Vorstand das Anlagengeschäft verantwortet, ist froh, dass die Industrie „nach Dekaden ohne nennenswerte Kapazitätserweiterungen in den USA“ nun strategische Veränderungen erlebt. Durch das Vorhaben würden vor den Toren Houstons etwa tausend Arbeitsplätze geschaffen.

Doch nicht nur am Golf von Mexiko wirkt sich die Investition jobtechnisch aus. „Der Projekterfolg erfüllt uns mit großer Zuversicht, schafft aber auch Beschäftigung in anderen Engineering-Einheiten weltweit, mit welchen wir im Verbund sehr eng zusammenarbeiten“, sagt der Dresdner Betriebsratschef Frank Sonntag. Das für den Standort „sehr wichtige Vorhaben mit einem großen Kunden“ sei Ausdruck vorhandener Expertise bei Polymeranlagen engagierter Arbeit der Kolleginnen und Kollegen. Trotz der frohen Kunde wollte sich die Standortleitung nicht äußern.

Noch im November stand die Schließung der Dresdner Adresse im Raum. Später gab Linde auch auf politischen Druck Sachsens eine Standortgarantie und den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen bis 2021 bekannt. Bedingung: die schon länger angestrebte Fusion des Gasespezialisten mit Praxair.

Vor sechs Wochen gab der Linde-Aufsichtsrat der Ehe mit dem US-Konkurrenten den Segen – gegen den Willen fast aller Arbeitnehmervertreter. Sie sehen 10 000 Arbeitsplätze und die Mitbestimmung in Gefahr, weil die künftige Holding in Irland sitzen soll. Einzig Frank Sonntag enthielt sich der Stimme – und sicherte so vorübergehend die Jobs seiner 450 Kollegen.

Nach dem grünen Licht erklärte Praxair-Chef Steve Angel: Bislang hätten die Amerikaner ihre Anlagen von Landsleuten bauen lassen. Jetzt werde der Linde-Anlagenbau neuer Hauptlieferant. Und Sachsens Landeshauptstadt ist seit 2013 Sitz jener weltweiten Montageaktivitäten. Trotz der Standortgarantie sollen im Rahmen eines Linde-Sparprogramms in Dresden bis zu 200 Jobs verschwinden. Jedoch müsse keiner gegen seinen Willen gehen, versichert ein Sprecher. Bis Ende 2021 gebe es keine betriebsbedingten Kündigungen.

Linde Engineering Dresden ist weltweit führend bei Planung, Lieferung und Bau von Petrochemie-, Luftzerlegungs-, Gas-, CO2- und Energieanlagen. Auf seiner Referenzliste stehen auch große Petrochemieprojekte im Nahen Osten, in Europa und in Russland, darunter Polyethylen- und Polypropylen-Anlagen und Luftverflüssigungs- und Luftzerlegungsanlagen, die seit über 100 Jahren nach Russland und in die Ukraine geliefert werden. Auch bei kohlenstoffarmen und sauberen Energietechnologien und Prozessanlagen, etwa für die Lebensmittelindustrie, hatte sich die als Linde-KCA bekannte und 2015 im Konzern aufgegangene Adresse einen Namen gemacht.

Dennoch wird immer wieder kolportiert, die Sachsen seien defizitär. Dabei arbeitet die Belegschaft bei weniger Gehalt auch fünf Stunden pro Woche länger als die Kollegen im Westen. Daraus ergebe sich bei Stundensätzen ein Kostenvorteil von 40 Prozent, heißt es. Laut Unternehmensberatung Kemper & Schlomski haben die Dresdner von 2004 bis 2014 über 100 Millionen Euro an die Zentrale überwiesen.

Ostdeutscher Anlagenbau brummt

Der jüngste Job der Dresdner passt ins aktuelle Branchenbild: Der Maschinen- und Anlagenbau hat im zweiten Quartal seinen Aufwärtstrend fortgesetzt. Das ergab eine Umfrage des Branchenverbandes VDMA unter den 350 ostdeutschen Mitgliedsbetrieben. 88 von 100 Unternehmen schätzen demnach ihre Geschäftslage als sehr gut oder gut ein. Drei Monate zuvor waren es 78 Betriebe. „Die Kurve zeigt seit Ende 2016 stetig nach oben“, sagt Reinhard Pätz, Geschäftsführer des VDMA Ost. Die Kapazitätsauslastung sei auf fast 92 Prozent gestiegen, den höchsten Wert seit gut fünf Jahren. Das Auftragspolster habe sich im Schnitt auf gut fünf Monate erhöht, so Pätz. Damit verkürzten die ostdeutschen Betriebe den Abstand zum westdeutschen Maschinenbau – im Bundesschnitt reichten die Aufträge knapp sechs Monate.

Zum ostdeutschen Maschinen- und Anlagenbau zählen rund 470 Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern. Die insgesamt 81 000 Beschäftigten erwirtschafteten 2016 einen Umsatz von 17,7 Milliarden Euro. Die Exportquote liegt bei 50 Prozent.