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Linda bewegte nicht nur Pulsnitz

Das Mädchen schloss sich dem Islamischen Staat an. Im Irak wurde sie festgenommen.

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© ARD

Von Reiner Hanke

Pulsnitz. Es gab 2017 jede Menge Ereignisse und Aufreger im Röder- und Pulsnitztal. Eines bewegte gerade die Pulsnitzer besonders, aber auch weit darüber hinaus. Dafür sprechen hunderte Kommentare, mehr als zu jedem anderen Thema in der SZ und auf den Portalen der Zeitung. Es ist das Schicksal der Linda W. Einer Pulsnitzer Oberschülerin, die in den Irak zog und sich dem Islamischen Staat anschloss. Am 1. Juli 2016 flog die damals 15-Jährige heimlich nach Istanbul, gelangte über Rakka in Syrien bis Mossul im Irak. Ein Jahr später, wieder im Juli, gingen die Bilder von der Festnahme des Mädchens um die Welt. Zuvor war es ein Jahr recht still um Linda. Bis auf Informationen über ihre Heirat beim IS. Ein Lebenszeichen kam wohl in einer Nachricht im Januar an ihre Mutter mit der Botschaft, es gehe ihr gut. Dazu Drohungen, falls sie die Nachricht weitergebe und die Ankündigung von IS-Anschlägen. So kämpferisch klang es nicht mehr, als Linda diesen Monat in einem Bagdader Justizpalast erstmals ihre Mutter und die Schwester wiedersah. Vielleicht lag es ja an der Umgebung, dass die Begegnung etwas kühl erschien. Eine erschütternde Erkenntnis nahm auch die Pulsnitzer Bürgermeisterin Barbara Lüke aus dem Gespräch mit: dass wohl familiäre Probleme die Schülerin mit zu ihrem verhängnisvollen Entschluss brachten. Kontakte im Internet spielten letztlich eine ausschlaggebende Rolle. Dort erfolgte die Radikalisierung, ist sich die Rathauschefin sicher. Die Mutter sprach im TV von ihren Schuldgefühlen. Die Veränderung der Tochter habe sie bemerkt. Sie sei zu wenig für das Kind da gewesen, sagt sie selbstkritisch. Im Freundeskreis war die wachsende Nähe zum Islam ebenfalls aufgefallen. Linda habe immer weniger Haut gezeigt und sich abgekapselt. In der Schule schrillten die Alarmglocken spätestens, als Linda ihren Wunsch äußerte, ein Kopftuch zu tragen. Doch da war es zu spät. „Warum konnten wir das nicht verhindern?“ Diese Frage bewege manchen Pulsnitzer aus dem Umfeld des Mädchens, berichtete Barbara Lüke. Ein Fall wie dieser könne aber in jeder Stadt in jedem Dorf passieren, schätzt sie ein: „Das Thema ist nicht nur in Pulsnitz, sondern überall präsent.“

Hass und Bestürzung

Heute bereue sie das alles, sagte Linda nun vor laufender Kamera, eine dumme Idee sei es gewesen, sie habe ihr Leben ruiniert. Ist es ehrliche Reue? Die vielen Kommentatoren aus allen vier Himmelsrichtungen sind ebenso gespalten zum Schicksal Lindas wie die einheimischen Pulsnitzer. Zumindest erleichtere der Auftritt mit Kopftuch im TV den Umgang mit den Geschehnissen in Pulsnitz selbst nicht, formulierte Barbara Lüke vorsichtig. Das Kopftuch könnte freilich auch pragmatische Gründe haben. Im Irak drohen Frauen ohne Kopfbedeckung empfindliche Strafen. Eine Kommentatorin stellte jedenfalls klar, dass sie Linda die Reue nicht abnehme. Ein Mann schreibt: „Wer sich Terroristen anschließt, hat kein Mitleid verdient.“ Das ist noch ein milder unter den Hasskommentaren im Netz. Es gibt aber auch Bestürzung über die Härte in so mancher Formulierung und viel Mitgefühl mit der Familie.

Ein Kommentator schrieb jetzt: „Zum Zeitpunkt, als sie sich manipulieren ließ, ist sie ein pubertierendes Kind gewesen. Jetzt gehört das Mädchen erstmal nach Hause.“ Dann sei es an den Ermittlern und der Staatsanwaltschaft herauszufinden, was strafrechtlich relevant ist. Das könnte jetzt aber auch erst einmal vor einem irakischen Gericht anstehen. Die deutsche Generalbundesanwaltschaft kündigte unterdessen an, künftig auch den bloßen Aufenthalt beim IS als Unterstützung der Terrormiliz strafrechtlich zu verfolgen.

So rechnet die Bürgermeisterin kaum noch mit einer Rückkehr Lindas nach Pulsnitz. Zumal das Mädchen im kommenden Jahr 18 wird. Sie sei damit volljährig und könne den Wohnsitz selbst wählen. Sie müsse lernen, für ihr Verhalten einzustehen, die Strafe akzeptieren, sagt die Bürgermeisterin und „bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen die Möglichkeit zur Resozialisierung bekommen. Denn vor dem geltenden Recht sind alle gleich“. Der Kamenzer Stadtrat Bernd Goldammer formulierte es im Netz so: „Jeder hat das Recht auf eine zweite Chance.“