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Leuchtturm der Hoffnung

Wie Deutschland mit viel Geld in Tunesien Fluchtursachen bekämpfen will und warum es dort bald ein „Café Reeperbahn“ gibt.

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© Thomas Imo/photothek.net

Von Philipp Hedemann

Das Boot der Schleuser wollte gerade ablegen, als die schwerbewaffneten Männer der tunesischen Küstenwache auftauchten. In Panik kletterte Salem Fadhloun aus dem Kahn, rannte davon und versteckte sich. Einige der verzweifelten jungen Männer, die mit ihm ihr altes Leben riskieren wollten, um in Europa ein neues zu beginnen, nahmen die Beamten fest. Salem fanden sie in der Dunkelheit der Nacht nicht. Doch sein Traum war geplatzt. Schon wieder. Es war bereits das zweite Mal, dass der Tunesier an Bord eines Schlepperbootes nach Europa fliehen wollte. Umgerechnet rund 900 Euro, die er sich von seiner Familie und Freunden geliehen hatte, waren weg – und Salem war immer noch in Tunesien.

Mounir Ben Abdallah lernt Deutsch und lässt sich als Pflegefachkraft ausbilden. Mit dem Abschluss in der Tasche bekommt er einen Job im Krankenhaus Wiesbaden.
Mounir Ben Abdallah lernt Deutsch und lässt sich als Pflegefachkraft ausbilden. Mit dem Abschluss in der Tasche bekommt er einen Job im Krankenhaus Wiesbaden. © Thomas Imo/photothek.net

Heute denkt der 25-Jährige nicht mehr daran abzuhauen. Salem hat in einem von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) geförderten Trainingszentrum eine Ausbildung zum Schneider gemacht, anschließend bei einer der größten tunesischen Textilfirmen angeheuert. Um Menschen wie ihn von der Flucht nach Europa abzuhalten und um die junge Demokratie zu stärken, steckt die Bundesregierung jedes Jahr Millionen in die Schaffung neuer Jobs in Tunesien.

„Früher habe ich nur die coolen Typen gesehen, die nach ein paar Jahren in Europa mit dicken Autos und viel Geld zurückkamen. Das wollte ich auch“, erzählt Salem Fadloun, der vor sieben Jahren die Schule abbrach, um sein Glück im Ausland zu suchen.

Kurz zuvor hatte sich der junge Gemüsehändler Mohamed Bouazizi aus Protest über Demütigungen durch tunesische Behörden mit Benzin übergossen und angezündet. Seine Selbstverbrennung löste nicht nur die tunesische Jasmin-Revolution aus, sondern den gesamten Arabischen Frühling. „Wir haben es geschafft, Diktator Ben Ali aus dem Land zu jagen und unsere Freiheit zu erkämpfen. Jetzt wird es endlich bergauf gehen“, dachten im Rausch der Revolution viele Tunesier.

Und tatsächlich: Während in Libyen, Syrien und Ägypten auf die Revolution Chaos und Gewalt folgten, entstand in Tunesien eine fragile Demokratie. Auch mehrere schwere Terroranschläge im Jahr 2015 brachten das Land nicht vom eingeschlagenen Kurs ab. Doch die erhoffte wirtschaftliche Dividende blieb aus.

Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen sank von umgerechnet knapp 290 Euro (2011) auf rund 235 Euro (2017) im Monat, und die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit stieg weiter an. Vor allem junge Tunesier sind davon betroffen. Auf dem Land findet jeder zweite junge Erwachsene keine Arbeit, unter den Hochschulabsolventen ist die Quote oft noch höher.

Die Erhöhung der Mehrwertsteuer und Preissteigerungen bei Benzin, Kaffee, Tee, Medikamenten und Telekommunikation führten im Januar zu den größten Protesten seit der Revolution. Zehntausende gingen auf die Straße, Hunderte wurden verhaftet, ein Demonstrant starb. Unter dem Druck der Straße versprach die Regierung Hilfe für die Ärmsten und bat die Bevölkerung um Geduld. Doch viele junge Menschen haben keine Geduld mehr. Fast 8 000 Tunesier haben im letzten Jahr das Mittelmeer in Schlepperbooten überquert – so viele wie seit der Revolution nicht mehr.

Die meisten von ihnen riskierten ihr Leben in der Hoffnung, in der Fremde Arbeit zu finden. Dabei gibt es auf dem tunesischen Arbeitsmarkt rund 145 000 offene Stellen, für die tunesische und ausländische Arbeitgeber kein qualifiziertes Personal finden. Auch die Firma Sartex, die in der Küstenstadt Monastir Kleidung für Hugo Boss, Ralph Lauren, Yves Saint Laurent, Lacoste und Calvin Klein herstellt, suchte händeringend geeignete Mitarbeiter – und fand sie nicht. Schließlich entschied sich das 3 400-Mitarbeiter-Unternehmen umgerechnet rund 1,5 Millionen Euro in das Trainingszentrum zu investieren, in dem auch Salem Fadhloun ausgebildet wurde. Die GIZ förderte das Unternehmen dabei mit Beratung im Wert von rund 200 000 Euro.

„Die Curricula der staatlichen Berufsschulen stammen oftmals noch aus den 60er-Jahren und passen nicht mehr zu den Anforderungen des Arbeitsmarktes. Darum unterstützen wir unsere tunesischen Partner wie Sartex in der praktischen und theoretischen Berufsausbildung“, sagt GIZ-Programmkoordinator Tobias Seiberlich.

Im hellen Sartex-Ausbildungszentrum sitzen rund 150 junge Frauen und einige Männer in langen Reihen an Nähmaschinen und lernen, wie man Hosen, Hemden und Röcke näht. Mit strengem Blick und Lineal überprüft Ausbilderin Salha Dellala dabei die Nähte. „Bevor ich vor sieben Jahren bei Sartex angefangen habe, wollte ich auch weg. Nach Europa“, sagt die junge Tunesierin. „Aber jetzt gibt es für mich keinen Grund mehr, wegzugehen. Ich habe mich angestrengt und mich hochgearbeitet. Jetzt verdiene ich hier gutes Geld“, sagt die ehemalige Schulabbrecherin. Für viele ihrer Auszubildenden ist die 25-Jährige mittlerweile ein Vorbild.

„Beschäftigung, Beschäftigung, Beschäftigung! Darum bemühen wir uns in Tunesien“, berichtet Landesdirektor Matthias Giegerich im GIZ-Büro in der Hauptstadt Tunis. Dabei wollte die Entwicklungshilfeorganisation sich eigentlich längst aus dem im Vergleich zu vielen anderen afrikanischen Staaten relativ weit entwickelten Land zurückziehen. Doch dann brach die Revolution aus, und Tunesien wurde zum „Donor Darling“, zum Liebling der internationalen Gebergemeinschaft.

Während ihres Tunesien-Besuchs im März 2017 bezeichnete Angela Merkel das Land als „Leuchtturm der Hoffnung“ für die arabische Welt. Mit internationaler Unterstützung soll Tunesien zum Vorbild für andere Transformationsländer werden. Hier soll gezeigt werden, wie zugleich Demokratie gefördert, Beschäftigung geschaffen und illegale Immigration bekämpft werden kann.

Dazu unterstützt die GIZ unter anderem innovative Start-ups im ganzen Land und bemüht sich, junge Tunesier durch Umschulungen fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Vor einem Jahr eröffnete Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) zudem in Tunis das „Deutsch-Tunesische Zentrum für Jobs, Migration und Reintegration“. Mehr als 1 500 Männer und Frauen haben die Einrichtung seitdem besucht. Sie soll Tunesier unter anderem über Beschäftigungs- und Fortbildungsmöglichkeiten in ihrer Heimat informieren. Doch: „98 Prozent unserer Besucher interessieren sich zunächst für legale Migrationsmöglichkeiten nach Deutschland“, sagt GIZ-Projektleiterin Aylin Türer-Strzelczyk. Aber Chancen auf ein Arbeitsvisum haben nur Tunesier, die etwas gelernt haben, was in Deutschland dringend gebraucht wird – Krankenpfleger zum Beispiel. 18 tunesische Pflegerinnen und -pfleger hat das Zentrum bislang auf ihren Einsatz in Deutschland vorbereitet. Mounir Ben Abdallah ist einer von ihnen. Seit acht Monaten büffelt der Pfleger aus Tunis Deutsch, Mitarbeiter des Migrationszentrums haben ihm geholfen, zahlreiche Formulare auszufüllen und einen Job an einem Krankenhaus in Wiesbaden zu finden. In wenigen Wochen wird Abdallah dort seinen Dienst antreten. Er freue sich, viel Neues zu lernen und natürlich reize ihn auch die gute Bezahlung, sagt der 28-Jährige in gebrochenem Deutsch im Beratungszentrum. Dann lächelt er nervös. Auch wenn er glaubt, dass die meisten Deutschen „nett und ehrlich“ sind, hat er auch schon von ausländerfeindlichen Übergriffen in Deutschland gehört.

Taxifahrer Walid hat solche Erfahrungen am eigenen Leib gemacht. Über zwei Jahre schlug sich der 37-Jährige Tunesier ohne Aufenthaltsgenehmigung in der Nähe von Hamburg durch. Er sagt, er sei mehrfach beschimpft und geschlagen worden. Um seiner Abschiebung zuvorzukommen, kehrte er vor einem knappen Jahr nach Tunis zurück – als gescheiterter Mann. Ohne Geld, ohne Plan, ohne Perspektive. Schließlich landete er beim deutschen Zentrum für Jobs, Migration und Reintegration. Hier entwickelte er mit den Beratern einen Businessplan – bald will er sein eigenes Café eröffnen. Für Beratung und Startkapital investiert die GIZ rund 5 000 Euro in den Rückkehrer. Viel Geld. Doch sein eigenes Business, so die Hoffnung der Entwicklungshelfer, soll ihn in Zukunft davon abhalten, erneut nach Deutschland zu fliehen. An Deutschland denken, wird Walid jedoch weiterhin. Sein Laden soll „Café Reeperbahn“ heißen.