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Letzter Zwischenhalt vorm Vernichtungslager

Am 10. Dezember 1941 schickten die Nazis die verbliebenen jüdischen Görlitzer Bürger nach Tormersdorf – zur Zwangsarbeit.

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© Ratsarchiv

Von Sebastian Beutler

Tormersdorf. Die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten kennt viele Eskalationsstufen: Berufsverbote, Enteignungen, Abgaben, Erniedrigungen, Einschränkungen, den Judenstern auf der Jacke. Offene Gewalt zeigte sich in der Reichspogromnacht, zu einer Zeit, als die Nazis offensichtlich noch dem Gedanken anhingen, die Juden einfach nur aus Europa zu vertreiben und vielleicht hinter dem Ural oder auf afrikanischen Inseln anzusiedeln. Doch mit dem Krieg gegen die Sowjetunion ab Juni 1941 verschärfte das Regime seine Maßnahmen. Zuerst ließ es Tausende Juden in den eroberten Gebieten der Ukraine und Weißrusslands erschießen. Das Massaker von Baby Jar steht dafür.

Doch der Terror richtete sich auch gegen die im Deutschen Reich verbliebenen jüdischen Mitbürger. So wurden sie ab März 1941 zur Zwangsarbeit herangezogen, auch verloren sie ihr letztes Hab und Gut. In dieser schier ausweglosen Lage wurden die Görlitzer Juden im Dezember 1941 nach Tormersdorf gebracht. Das geschah am 10. Dezember, also an diesem Sonnabend vor 75 Jahren.

Die Juden kamen in die Brüder- und Pflegeanstalt Zoar in Rothenburg, die Geistesgestörte, Epileptiker, erwachsene Körperbehinderte und alte Kranke beherbergte und im Juni 1941 geräumt wurde. So berichtet es der Görlitzer Historiker Roland Otto in seinem Buch „Die Verfolgung der Juden in Görlitz“. Die Görlitzer Juden trafen auf rund 130 ältere jüdische Frauen und Männer, die ursprünglich aus Breslau stammten und bereits im Juli in das Lager gebracht worden waren.

Unter den Juden gab es verschiedene Ansichten über Tormersdorf: Die eine Gruppe glaubte, damit würde ihnen das Vernichtungslager erspart, andere sahen darin nur eine weitere Vorhölle. Die arbeitsfähigen Juden mussten in Betrieben der Umgebung oder auf Rittergütern arbeiten, die Ernährung war karg, aber es wurde in dem Lager nach heutigen Erkenntnissen niemand hingerichtet. Bis zum Schulverbot konnten auch Kinder unterrichtet werden. Wie viele Juden in Tormersdorf untergebracht waren, ist bis heute nur annäherungsweise bekannt. Schätzungen reichen von 550 bis knapp 1 000. Auch ist nur schwer zu ermitteln, wie viele Görlitzer unter ihnen waren. Zwar gibt es eine Transportliste mit 41 Namen. Gewissheit herrscht darüber aber nicht.

Im Herbst 1942 konnten die jüdischen Bürger noch das Laubhüttenfest in Tormersdorf feiern. Dann wurde das Lager aufgelöst. Wie Roland Otto schreibt, wurden die meisten Lagerinsassen über Breslau in die Vernichtungslager im Osten, Majdanek und Auschwitz sowie bei Minsk, gebracht. Einige landeten auch im Kloster Grüssau im Riesengebirge, das zu einem Ghetto ausgebaut worden war. Der Leidensweg der meisten Juden aus dem Kloster endete im Konzentrationslager Theresienstadt.

In Görlitz aber konnten sich nur wenige Juden den Transporten nach Tormersdorf entziehen. Ab Winter 1941 war die Stadt praktisch „judenfrei“. Die einst geschätzten Mitbürger waren ins Exil vertrieben, in Lager gesteckt oder bereits ermordet worden.