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Kirow hebt wieder ab

Das Unternehmen ist nach dem Kollaps Anfang der 90er-Jahre zum Weltmarktführer aufgestiegen.

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© kairospress

Von Sven Heitkamp

Als Ludwig Koehne im Januar 1994 die Schwermaschinen-Manufaktur Kirow in Leipzig für eine symbolische D-Mark übernimmt, steht er beinah vor dem Nichts: Nur ein einziger Auftrag liegt vor – und der ist vakant. Die Technik des Werkes gilt nach westlichen Standards als veraltet, Material aus Russland ist schwer zu bekommen. 180 verbliebene Kirow-Facharbeiter und -Ingenieure bangen um die Zukunft. Die steht ausgerechnet in Gestalt von Koehne vor ihnen, damals gerade 27 Jahre alt und Sohn einer Gleisbauer-Familie aus Oberhausen.

Doch dem jungen Mann gelingt der Kraftakt: Der Sanierungsfall „VEB Schwermaschinen S.M. Kirow“, zu DDR-Zeiten der Kranbau-König des Ostblocks mit bis zu 3 000 Mitarbeitern, ist heute Weltmarktführer für Eisenbahnkrane und für Schlackentransporter. Die tonnenschweren Spezialfahrzeuge sind von Südamerika über Europa bis Südostasien unter Kirow-Flagge im Einsatz, an Aufträgen mangelt es derzeit nicht. Gerade werden fünf feuerrote Notfallkräne an die Deutsche Bahn und zwei Weichenkräne für die Londoner U-Bahn gefertigt. Die Kranunion-Gruppe, zu der Kirow gehört, macht 2015 mehr als 150 Millionen Euro Umsatz und schreibt schwarze Zahlen.

Die Wende begann mit einer zufälligen Begegnung. Koehnes Vater, Unternehmens-Patron Hermann-Dieter Koehne, lernte 1993 den damaligen Treuhand-Beauftragten Klaus von Dohnanyi in einer Lounge am Düsseldorfer Flughafen kennen. Dohnanyi war für die Privatisierung ostdeutscher Kombinate mitverantwortlich, vor allem beim Fördermaschinen- und Kranbauer „Takraf“ in Leipzig. Doch Kirow, dessen Ursprünge in die 1880er-Jahre zurückreichen, wollte niemand haben. Erst Koehne Senior sagte spontan Ja und schickte schließlich seinen Sohn nach Leipzig. Der arbeitete nach seinem Wirtschaftsstudium in Oxford bei der Treuhand und war für Abwicklungen von ehemals Volkseigenen Betrieben zuständig.

Reichlich 20 Jahre später schlendert Ludwig Koehne entspannt durch die Leipziger Werkhallen: Jeans, feste Stiefel, schlichtes Sakko, ab und an das Handy am Ohr. Der 49-Jährige ist nicht der Typ Chef, der den ganzen Tag am Schreibtisch italienisches Mineralwasser trinkt. Wenn er durch die Hallen geht, in denen es nach Öl und Farbe riecht und Funken der Schweißer durch die Luft stieben, grüßt er die Kollegen im Blaumann jovial. An den Hallendecken rotieren noch Kräne mit der Aufschrift „Saalfelder Hebezeugbau 1967“. Doch die Technik ist alles andere als nostalgisch. „Die Tragkraft der Decken haben wir von 12,5 Tonen auf 40 Tonnen erhöht“, erzählt Koehne.

Der Durchbruch gelingt dem Unternehmen mit einer Idee des hauseigenen Chefkonstrukteurs. Er entwickelte einen Eisenbahnkran mit zwei Drehverbindungen, der eine ganz besondere Eigenschaft hat: Obwohl er bis zu 160 Tonnen heben kann – verunglückte Loks zum Beispiel – schwenkt das Gegengewicht am Heck nicht mit. Der Teleskop-Ausleger bleibt in der Gleisspur des Krans. Das ist nicht nur in Tunneln, neben Masten oder in den Bergen unerlässlich. Es hilft auch dabei, den Zugverkehr auf Nachbargleisen nicht zu stören. Die Konstruktion macht den „Multi Tasker“ agil und flexibel – und hält Kirow an der Weltspitze. „Die Neuentwicklung war der Grundstein für unseren Erfolg“, sagt Koehne. „Als wir ihn auf einer Fachmesse 1999 in Wien vorgestellt haben, haben wir gleich drei Stück verkauft.“ Die Freude über den Coup ist Koehne noch heute anzumerken – ein stolzes Lächeln huscht über sein Gesicht. Der Trick liegt vor allem im Material: „Wir verwenden erstklassige, hochfeste Stähle“, sagt Koehne.

Das Beste an der ausgefeilten Stahlkonstruktion ist aber: Sie wurde noch von keinem seiner großen Konkurrenten in den USA, Russland und China kopiert. So beliefert Kirow heute zwei Drittel des Weltmarktes. „Selbst die chinesische Staatsbahn kauft bei uns.“

Der Standort in Plagwitz hat sich in den Jahren sichtbar entwickelt. 35 Millionen Euro wurden seit der Privatisierung investiert, sieben neue Fertigungshallen und ein neues Verwaltungsgebäude sind entstanden. Doch Koehne weiß, dass das Glück nicht ewig anhält. „Wir stehen am Ende eines Superzyklusses des chinesischen Megawachstums und der aufstrebenden Brics-Staaten. Die Dynamik wird spürbar abnehmen, und wir werden wieder etwas kleinere Brötchen backen“, sagt er voraus. Wurden dieses Jahr noch mehr als 20 Kräne produziert, dürften es 2016 weniger als die Hälfte werden.

Das volatile Geschäft wirkt sich auch auf die Mitarbeiterzahl aus: Sie schwankt je nach Auftragslage zwischen einem Stamm von reichlich 200 Kollegen und bis zu 300 Beschäftigten. Um dem Auf und Ab zu begegnen, hat Kirow mittlerweile sechs Produkte etabliert, zu denen auch riesige Schlackentransporter zählen, bei denen die Leipziger ebenfalls Marktführer sind, hinzu kommen Spezialtransporter für Stahlwerke. „Mit diesen Eigenentwicklungen haben wir neue Kunden erschlossen“, betont Koehne.

Unter dem Dach der Firmengruppe „Kranunion“ firmieren zudem „Ardelt“ in Eberswade mit Hafenkränen und Doppel-Lenkern sowie die Bremer Spezialisten für Goliath-Krane und Containerbrücken, „Kocks“, daneben als Schwesterfirma die Leipziger Straßenbahn-Manufaktur „Heiterblick“.

Das Zentrum der Gruppe ist Leipzig, doch zur Kranunion gehören fünf Standorte und sechs Büros in der ganzen Welt. Koehne ist daher die meiste Zeit des Jahres unterwegs. „Mein Lebensmittelpunkt“, sagt er schmunzelnd und zeigt auf sein Smartphone, „ist dieses Ding hier.“

Diesen und weitere Artikel über Macher finden Sie in der neuen Ausgabe von Wirtschaft in Sachsen, dem Entscheidermagazin der Sächsischen Zeitung. Sie bekommen es an gut sortierten Zeitschriftenkiosken und in Bahnhofsbuchhandlungen.