Merken

Lehrerin probt den Aufstand

Mit einer Klage will Marianne Grimmenstein das geplante Freihandelsabkommen der EU mit Kanada zu Fall bringen. Was klein begann, entwickelt sich zur größten Verfassungsbeschwerde in der Geschichte der Bundesrepublik.

Teilen
Folgen
© dpa

Von Jörg Taron

Lüdenscheid. Das Wohnzimmer von Marianne Grimmenstein erinnert an eine Poststelle. „Das ist alles nur von heute“, sagt die 69-Jährige und zeigt auf die Briefstapel auf dem Tisch. Hunderte Bundesbürger schicken der Musiklehrerin aus Lüdenscheid im Sauerland derzeit täglich eine Vollmacht, mit der sie sich Grimmensteins Verfassungsbeschwerde gegen das Freihandelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada anschließen wollen. Es dürfte die größte Bürgerklage in der Geschichte der Bundesrepublik werden.

„So viel Post bekommt in Lüdenscheid keiner“, sagt Postbote Thomas Grehel, der gerade eine Kiste mit Hunderten Briefen gebracht hat. Während Grimmensteins Ehemann Peter beginnt, die Umschläge zu öffnen und die Formulare zu stapeln, redet sich die Frau in Rage: CETA billige Konzernen ein Klagerecht gegen Staaten zu. „Aber die Staaten können nicht gegen die Wirtschaft klagen, wenn die Mist bauen und unsere Welt kaputt machen. Das ist doch ein Witz.“ Das Abkommen fördere Gentechnik und Umweltzerstörung und beschneide Arbeitnehmer- und Verbraucherrechte.

Seit 2014 kämpft Grimmenstein gegen CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement), das auch als Blaupause für das ungleich größere geplante Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA gilt. Dass sie dabei eine solche Massenbewegung losgetreten hat, ist ihr noch immer ein bisschen unheimlich. Aber letztlich überwiegt die Freude über die Riesen-Resonanz. Eine Online-Petition, die sie angestoßen hat, wird inzwischen von mehr als 165 000 Menschen unterstützt.

Nun bereitet sie gemeinsam mit dem Bielefelder Jura-Professor Andreas Fisahn und mit Unterstützung der Petitions-Plattform „change.org“ die Mammut-Bürgerklage vor. Wer sich beteiligen will, kann auf der Seite ein Vollmacht für den Anwalt unterschreiben und ihn damit ermächten, im eigenen Namen Klage gegen das CETA-Abkommen einzureichen. Kosten entstehen dadurch nicht - sie sind bereits über Spenden gedeckt.

Rein rechtlich ist es egal, ob ein einzelner Mensch eine Verfassungsbeschwerde einreicht oder ob es Zehntausende sind, erklärt ein Sprecher des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Aber die öffentliche Aufmerksamkeit wird bei einer Massenklage natürlich größer.

Von 1951 bis 2015 wurden fast 213 000 Verfassungsbeschwerden eingelegt. Die bisher größten Beschwerden in Bezug auf die Anzahl der Beschwerdeführer richteten sich nach Angaben des Gerichts gegen die Vorratsdatenspeicherung (rund 35 000 Kläger) und den Euro-Rettungsschirm ESM (rund 37 000 Kläger).

An der CETA-Klage hatten sich schon vor zwei Wochen 40 000 Menschen beteiligt. 50 000 sollen es insgesamt werden, hofft Grimmenstein. Warum sie sich das alles antue? „Ich habe mich mein ganzes Leben lang für Wirtschaft und Politik interessiert, habe mir Wissen angeeignet und habe immer gefragt, was dahinter steht. Sozusagen als Ausgleich zu meinem Beruf.“ Und ihre Meinung vertrete sie konsequent und entschlossen, sagt sie.

Manche Nachtschicht hat die 69-Jährige schon eingelegt, um die vielen Briefe zu sichten und zu sortieren. Deshalb soll das Online-Formular am 12. März offline gehen. Vor dem Wohnzimmerfenster stapeln sich bereits Dutzende in Frischhalte-Folie gewickelte Stapel mit jeweils 500 Vollmachten. Grimmensteins Mann und drei weitere Helferinnen unterstützen sie bei der eintönigen Arbeit. Allein die Liste der Mitkläger, die der Verfassungsbeschwerde angehängt wird, dürfte rund 800 Seiten lang werden.

Wann genau sie ihre Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe einreicht, weiß Grimmenstein noch nicht. „Das hängt von den aktuellen Entwicklungen ab, denn noch ist das Abkommen ja nicht in Kraft.“ (dpa)