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Leben mit dem Terror

In Israel ist die Gefahr Alltag. Eine junge Frau aus Deutschland erzählt, wie sie damit umgeht.

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© dpa

Von Lissy Kaufmann

Wir hatten erst gar nicht daran gedacht. Es war das unschlagbare Happy-Hour-Angebot, das uns in diese Bar auf der Dizengoff-Straße lockte, eine gute Freundin und mich, an einem Tel Aviver Sommerabend vor einigen Wochen. Als wir den ersten Schluck von unserem Goldstar, dem israelischen Bier, nahmen, sagte die Freundin: „Sag mal, ist das nicht die Bar, in der im Januar der Anschlag war? Bei dem zwei junge Männer erschossen wurden?“ Wir blickten uns an, googelten schnell mit unseren Smartphones, um den Namen der Bar nachzusehen. Tatsächlich. Simta. Hier war es passiert.

Lissy Kaufmann (30), Absolventin der Deutschen Journalistenschule, lebt seit Oktober 2011 in Israel. Das Stipendium der Herbert Quandt-Stiftung brachte die Schwäbin damals ins Heilige Land. Seither arbeitet sie als freie Journalistin für Radio und Print u
Lissy Kaufmann (30), Absolventin der Deutschen Journalistenschule, lebt seit Oktober 2011 in Israel. Das Stipendium der Herbert Quandt-Stiftung brachte die Schwäbin damals ins Heilige Land. Seither arbeitet sie als freie Journalistin für Radio und Print u © privat

Kurz schoss mir der Gedanke in den Kopf: Israel, Terrorgefahr, Messerattacken – und ich hier, mittendrin. Was mache ich hier eigentlich? Doch genauso blitzartig, wie dieser Gedanke mir manchmal kommt, so schnell verschwindet er auch wieder. An diesem Abend sprachen wir über das Übliche: die Arbeit, neue Projekte, ein bisschen Nahostkonflikt, die Liebe.

So ist Israel. Der Terror ist allgegenwärtig, aber das Leben geht weiter, nach jeder Attacke.

„Unsere größte Herausforderung ist es, ein normales Leben zu führen“, sagt der israelische Psychologe und Traumaexperte Yotam Dagan. „Das heißt: widerstandsfähig zu sein und zur Normalität zurückzukehren. Stunden nach einer Terrorattacke sind die Straßen meist wieder aufgeräumt, die Läden geöffnet. Man hört noch ein paar Stunden, einen Tag lang, in den Nachrichten darüber. 2013 habe ich die Terrorattacke beim Boston Marathon erlebt. Dort war die Stadt für Tage gesperrt.“

Israelis haben es zu oft erlebt, als dass sie sich jedes Mal einen Ausnahmezustand erlauben könnten – weder auf den Straßen noch im Herzen. Es wäre ja auch unerträglich, angsterstarrt durchs Leben zu gehen - oder noch schlimmer: zu Hause zu bleiben. Obwohl, nein, gerade weil der Terror so präsent ist.

Seit knapp fünf Jahren lebe ich nun schon in Israel, das erste halbe Jahr in Jerusalem, heute in Tel Aviv. Seither sind zwei Gazakriege geführt worden, seit September vergangenen Jahres haben Terroristen 156-mal versucht, Menschen zu erstechen, 98 Mal, zu erschießen, und 46-mal, sie mit dem Auto zu überfahren. 40 Menschen sind dabei ums Leben gekommen, so teilt es das israelische Außenministerium mit.

Für Menschen wie meinen besten Freund Yaaron, der nach der Armee als Bodyguard gearbeitet hat und einen Waffenschein besitzt, bedeutet es, dass er das Haus nicht mehr ohne Waffe verlässt. „Ich sehe es als meine Aufgabe, im Notfall einzugreifen und Leben zu retten“, sagt der 29-Jährige. Im Restaurant setzt er sich gerne mit dem Rücken zur Wand, an einen Tisch, von dem aus er möglichst den Eingang sehen kann.

Es ist seine Art, mit dem Terror umzugehen und sich sicherer zu fühlen. Und er ist damit bei Weitem nicht allein: Als sich die Messerattacken Ende vergangenen Jahres plötzlich häuften, sind die Anträge für einen Waffenschein um ein 50-Faches gestiegen, so meldete es damals die Tageszeitung Haaretz. Gleichzeitig rief unter anderem Jerusalems Bürgermeister Nir Barkat Zivilisten mit Waffenschein wie Yaaron dazu auf, ihre Waffen bei sich zu tragen, wenn sie unterwegs sind.

Ja, der Terror ist vor allem seit dem Anstieg dieser Messerattacken auch verstärkt Teil meines Lebens geworden. Doch für mich ist die Konsequenz eine andere (nicht nur, weil ich eh keinen Waffenschein besitze): Ich weiß von der Möglichkeit einer Terrorattacke in meiner Umgebung und dass es theoretisch auch mir passieren könnte. Aber ich lasse mich davon, wie viele andere Israelis auch, nicht einschränken.

An die Sicherheitskontrollen an den Eingängen zum Einkaufszentrum habe ich mich längst gewöhnt, automatisch öffne ich meine Tasche und halte sie dem Sicherheitsbeamten mit dem Metalldetektor unter die Nase. Bevor ich den Bahnhof betrete, packe ich ohne nachzudenken Handy und Schlüssel aus meiner Hosentasche in den Rucksack, damit es nicht piepst, wenn ich am Metalldetektor vorbeilaufe. Und auch die Frage: „Hast du eine Waffe dabei? Eine Pistole oder ein Messer?“, finde ich nicht mehr merkwürdig.

Immer wieder habe ich vor allem in den Straßen von Jerusalem beobachtet, wie junge arabische Männer von der Polizei kontrolliert wurden: Taschen leeren, Schuhe aus, Hände an die Wand, Beine auseinander – dann wird abgetastet. Was für eine Schmach für einen Halbstarken, dessen Hass auf die Polizei und Israel dadurch sicher nicht kleiner wird, habe ich mir oft gedacht. Aber was, wenn er gefährlich ist?

Terror befördert Stereotype und Rassismus. Doch wie soll man sonst damit umgehen, wenn die meisten der Täter doch junge arabische Männer sind? Für viele Israelis stellen sich solche Fragen nicht mehr, Sicherheit geht vor. Ich lebe damit, dass ich keine Antwort gefunden habe.

Ich fahre weiterhin mit dem Bus oder mit der Straßenbahn in Jerusalem. Ich gehe weiterhin in die Altstadt, esse dort bei Abu Shukri Hummus, laufe durchs Damaskustor, wo es immer wieder Messerattacken gab und wo eine Zeit lang Scharfschützen postiert waren. Und ich treffe mich mit Freunden in Bars und Restaurants. Nicht, weil ich besonders mutig oder töricht wäre, sondern weil all diese Orte längst Teil meines Lebens in Israel geworden sind und ich sonst überhaupt nicht mehr vor die eigene Haustüre treten dürfte. Ich lebe ja hier, mittendrin.

Ich habe in Israel ein Gottvertrauen und eine Gelassenheit entwickelt, die ich vorher nicht von mir kannte. Nicht, dass ich seither leichtsinnig mein Leben riskiere. Im Bus schaue ich genau hin, wenn mir jemand komisch vorkommt. Aber mir ist klar geworden, dass ich nicht alles bis aufs Letzte lenken und beeinflussen kann. Ich kann vorsichtig sein, aber ich kann kaum wissen, ob ich heute zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sein werde. Darum sage ich mir, was alle Israelis gerne sagen: Hacol ihie beseder – alles wird gut.

Und ich bin überzeugt, dass es viel gefährlicher und leichtsinniger ist, sich mit dem Fahrrad in den aggressiven Tel Aviver Straßenverkehr zu stürzen. Was ich aber dennoch täglich tue. Hacol ihie beseder.

„Wir haben in Israel mehr Opfer durch Autounfälle als durch Terrorattacken“, sagt auch Yotam Dagan. Doch Angst lässt sich nicht rational und mit Wahrscheinlichkeitsrechnung bekämpfen. Ich sehe das bei meinen Freunden, die Kinder haben, und plötzlich viel vorsichtiger sind, lieber mal am Wochenende zu Hause bleiben und bestimmte Orte meiden, an die wir früher ohne nachzudenken gegangen sind. „Wenn viele Attacken passieren und darüber berichtet wird, ändert sich die Atmosphäre. Vor allem heutzutage, da Bilder und Videos sofort und ungefiltert in den sozialen Netzwerken geteilt werden“, so Yotam Dagan.

Auch wenn Israelis sehr schnell zur Tagesordnung übergehen und die meisten weiterhin in Busse und Bahnen steigen: Der Terror hat sich auf die Gesellschaft ausgewirkt. Davon ist auch Yotam Dagan überzeugt: „Der Stress liegt in der Luft. Als Gesellschaft sind wir sehr impulsiv, laut, wir planen nicht gut im Voraus und sind nicht immer so freundlich. Selbst die Parkplatzsuche auf dem Weg zum Strand ist manchmal kriegerisch. Aber wir sind auch sehr warm und innovativ.“

Nun ist der Terror auch in Europa – meiner Heimat – angekommen. Freunde, die mich bisher nicht in Israel besuchen wollte, aus Angst vor dem Terror, spüren ihn nun vor der eigenen Haustür. Wie so viele Israelis bin ich gespannt, ob von nun an auch dort der Terror zum Alltag gehören wird, und wenn ja, wie er die europäischen Gesellschaften, ja auch meine Familie und Freunde, verändern wird.