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Leben in der Nieskyer Prärie

Weil hier vorher nichts gewesen ist, ist das Gebiet Indianersiedlung getauft worden. Der Name hält sich.

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© André Schulze

Von Sabine Ohlenbusch

Niesky. „Die Indianersiedlung kennt jeder in Niesky“, ist Enrico Volejmik überzeugt, „genauso weiß jeder, wo sie liegt: hinter dem Becker-Bäcker.“ Die Raumzellensiedlung ist ein Nieskyer Original. Als sie gebaut worden ist, hat es in dem Gebiet nichts gegeben. Daher der Name: die ersten Bewohner sind praktisch in die Prärie gezogen. Seit 1973 sind die Gebäude in der Puschkin-, der Maxim-Gorki- und der Jahnstraße aufgestellt worden. Die meisten Bewohner sind aber erst im Jahr 1976 oder noch später eingezogen.

Einige leben immer noch dort und feiern in diesem Jahr ihr 40-jähriges Wohnjubiläum. Manfred Heckel ist einer der Ersten, die im Dezember 1974 in eines der Eigenheime eingezogen ist. Er hat selbst beim Waggonbau Niesky gearbeitet und ist von einem Kollegen auf die Idee gebracht worden, selbst zu bauen. „Es hat damals geheißen, dass es schnell gehen wird“, erzählt er, „und wir haben damals in der Schule in Trebus gewohnt.“ Seine Frau hat als Lehrerin dort unterrichtet. Für das Eigenheim hat Manfred Heckel im Waggonbau wie alle Bauherren eintausend Stunden Pflichtleistung abgearbeitet und dann noch auf seiner eigenen Baustelle zum Beispiel die Terrasse gemauert. Das hat aber auch den Vorteil gehabt, selbst gestalten zu können, sagt er.

Dass es schnell geht, ein ganzes Wohngebiet aufzubauen, hat man deshalb geglaubt, weil das Aufstellen der Häuser im Prinzip so schnell geht, wie ein Indianerzelt aufzubauen: Die Raumzellen sind fix und fertig aus dem Werk in Dauban angeliefert worden. An Halterungen in der Decke, den Traversen, sind sie in die Luft gehoben und an ihrem Bestimmungsort wieder abgesetzt worden. Nur das Fundament und der Keller sind vorher zu bauen gewesen. Dass es dann doch ein wenig gedauert hat, bis die Siedlung fertig gewesen ist, hat an mehreren Baustopps gelegen.

Anders als windige Zelte sind die soliden Bauten für damalige Verhältnisse mit viel Komfort ausgestattet gewesen. „Ein großes Argument für die Siedlung ist die Fernwärme gewesen“, erinnert sich Manfred Heckel. Seines Wissens sind die Häuser die ersten gewesen, in denen keine Heizkessel, Kohleöfen oder Öltanks notwendig gewesen sind. Die Heizzentrale ist schon damals direkt an der Jahnstraße gewesen. „Nach wie vor ist die Indianersiedlung mit einer unserer Hauptabnehmer der Fernwärme“, erklärt Andreas Schiewer, Leiter der Abteilung Netze bei den Stadtwerken Niesky. Ab den 1980er Jahren sind von der Jahnstraße aus auch die Wohnblöcke auf der Rudolf-Breitscheid-Straße versorgt worden. Nachfolgend sind weitere Wärmekunden wie das Straßenbauamt, der Jahnsportplatz sowie die Firmen Elektro-Technik-Niesky und Neißekies angeschlossen worden.

Manfred Heckels Nachbar Enrico Volejmik wohnt noch nicht ganz so lange in der Puschkinstraße: Er ist nach der Wende mit seiner Familie in die Siedlung gezogen. „Wir haben uns unser eigenes Häusel gewünscht“, erinnert er sich, „und nach der Wende sind die Preise sehr hoch gewesen.“ Er ist zufrieden mit seinem Eigenheim. Jedes Jahr baut er seinen Raumzellenkomplex ein bisschen weiter aus. Im vergangenen Jahr hat er zum Beispiel die Fassade mit hellen Klinkern verkleidet. Damit ist es ebenso individuell wie die meisten anderen Häuser in der Straße. Obwohl sie alle gleich sind, unterscheiden sie sich stark im Aussehen. Immer sind fünf Raumzellen zusammengefügt und ergeben 80 Quadratmeter Wohnfläche im Obergeschoss und rund 70 im Souterrain. Viele sind bunt, andere haben ein neues Dach aufgesetzt bekommen. Sie unterscheiden sich je nach Straßenseite aber darin, ob vor oder hinter dem Haus Platz für eine große Terrasse ist.

Enrico Volejmik bestätigt die Einschätzung seines Nachbarn: „Die Häuser sind beliebt. Und auch sparsam mit der Energie.“ Enrico Volejmik hat bei sich einen Kamin eingebaut, den er als alternative Heizung einsetzen kann. Außer von der Romantik hat er sich dabei von ganz praktischen Überlegungen leiten lassen. „Wenn einmal ein richtiger Wintereinbruch kommt und die Leitungen vom Heizwerk einfrieren, dann geht nichts mehr“, erklärt er.