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Leben am Drahtseil

Mit neuer Technik können Bautzens Luftretter Verunglückte jetzt noch schneller bergen. Doch das braucht Übung.

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© SZ/Uwe Soeder

Von Miriam Schönbach

Ohrenbetäubend lärmt der Rotor des ADAC-Hubschraubers. Die Äste des kräftigen Sanddorns am Startplatz beugen sich den kräftigen Luftverwirbelungen der Maschine. Pilot Mario Klose gibt Vollgas. Wenige Sekunden später hebt der 2,5-Tonner vom Flugplatz in Litten ab. An diesem Abend ist es für die Crew von Christoph 62 nur eine Übung. Mit Hilfe der neuen Rettungswinde trainiert die Mannschaft das Bergen verletzter Personen aus unwegsamen Gelände. Deutschlandweit gibt es nur vier ADAC-Rettungshubschrauber mit einem solchen „verlängerten Arm“.

Fotos von der Höhenrettung

Am Boden zurück bleibt Stationsleiter und Pilot Ulrich Grenz. Mit dem neuen System arbeiten er und seine Kollegen seit Juni. „Damit im Ernstfall jeder Handgriff sitzt, übt jeder aus dem Team derzeit aller 45 Tage“, sagt der 50-Jährige. Mit dem Piloten verschwinden in diesem Augenblick Notfallsanitäter Franz Kliegl und Notarzt Heinz Brehme in den Wolken. Normalerweise arbeitet der promovierte Facharzt für Anästhesie am Klinikum Dresden-Friedrichstadt. Knapp 24 Stunden Bereitschaft liegen hinter ihm und Crew-Mitglied Kliegl. Nach der Übung ist Feierabend.

Daran ist jetzt noch nicht zu denken. Winkend steht Bergretter Matthias Riffer auf dem Rasen. Neben ihm liegt eine verletzte Person. Diesen Part übernimmt für die Übung Kollege Milan Drexler. Wenn der Hubschrauber durch die Leitstelle zu einem Einsatz mit Rettungswinde gerufen wird, erhalten die ehrenamtlichen Bergretter gleichzeitig das Alarmsignal.

24 Mal musste das Team im vergangenen Jahr noch mit dem alten System, dem Bergetau, aus den entlegensten Winkeln der Sächsischen Schweiz Menschen retten, sieben Mal ging es bereits 2016 mit der neuen, fest am Hubschrauber installierten Winde raus. Bei zwei Dritteln der Bergwachteinsätze handelt es sich um verunglückte Radfahrer und Wanderer. Nur etwa 30 Prozent sind Kletterer in Gefahr.

Bis zu 90 Meter in die Tiefe

Der Rettungshubschrauber taucht über den Baumwipfeln auf. Zielgerichtet steuert Mario Klose auf Matthias Riffer zu. Auf den Kufen der Maschine steht in gut 100 Metern Höhe Notfallsanitäter Franz Kliegl. Mit Hilfe eines Karabiners ist er immer mit dem Hubschrauber verbunden. Der Quatitzer gehört seit 15 Jahren zu den Bautzener Rettungsfliegern. Die Notfallsanitäter sind die Koordinatoren der Rettungseinsätze. „Der Pilot sieht ja unten nichts. Seine Aufgabe ist es, die Maschine so genau und so ruhig wie möglich an die Bergungsstelle zu fliegen“, sagt Ulrich Grenz.

Der gelbe Riese kreist über der Unfallstelle. Notfallsanitäter und Bergretter geben sich Handzeichen. Auch über Funk sind sie miteinander verbunden. Dann hängt sich Notarzt Heinz Brehme an die Rettungswinde. Bis zu 90 Meter tief reicht das Seil im Extremfall, so erreichen die Retter auch enge Bergschluchten.

Per Joystick fährt Franz Kliegl den stählernen Arm aus, mit einem weiteren Knopfdruck fährt das kaum fingerdicke Spezialdrahtseil in die Tiefe. Unten angekommen kümmert er sich um den Patienten. Der Hubschrauber dreht Richtung Oberlausitzer Bergland ab. Die nächste Übung soll das Aufnehmen des Unfallopfers simulieren. Im Ernstfall gäbe es keine Extrarunde. Da zählt jede Sekunde.

Der Hubschrauber kehrt zurück. Wieder stoppt Pilot Mario Klose direkt über der Unfallstelle, so als würde er die Maschine am Himmel festtuckern. Ganz vorsichtig lässt der Rettungssanitäter das Seil nach unten. Matthias Riffer koordiniert die Bergung am Boden. In wenigen Sekunden hängen Unfallopfer in seinem Bergesack, Arzt und Bergretter an der Winde. Bis zu 270 Kilo darf dieses Dreiergespann maximal an den Haken bringen. In luftiger Höhe verschwindet zuerst der Patient im Bauch des knatternden Koloss, ihm folgen die Retter. Mit dem früheren Bergetau hätte der Hubschrauber für diese Aktion landen müssen. Stattdessen geht es nun in einem Zug. Das spart kostbare Zeit.

1 200 Einsätze im Jahr

Zum Team der Bautzener Luftretter gehören acht Piloten, fünf Rettungssanitäter und 20 Ärzte. Der Hubschrauber ist Tag und Nacht einsatzbereit – 1 200 Mal im Jahr werden die Retter zu Notfällen gerufen, am häufigsten zu Patienten mit Herz-Kreislauferkrankungen. Auch Intensivverlegungen gehören zu den Aufgaben der Crew. So holt sie zum Beispiel schwer kranke Urlauber wieder nach Hause oder bringt frischgeborene Babys in Spezialkliniken. Die ADAC-Station bei Bautzen ist rund um die Uhr besetzt, an 365 Tagen im Jahr. Für die Übung haben sich die Gelben Engel extra bei der Leitstelle abgemeldet.

Ohrenbetäubend nähert sich Christoph 62 seinem Landeplatz. Mit dem Verstummen des Rotors springen die Luftretter aus der Maschine. Matthias Riffer öffnet die Heckklappe. Gemeinsam mit dem Kollegen holen sie den Patienten vorsichtig aus dem Stahlbauch. Die Übung ist beendet. Doch statt sich eine Pause zu gönnen, macht die Crew den Hubschrauber sofort wieder startklar. Die Maschine wird aufgetankt. Sie wollen keine Zeit verlieren, denn jeden Moment kann es heißen: Einsatz für die Bautzener Rettungsflieger.