Von Karin Großmann und Alexander Schneider
Wir sagen euch an den vierten Advent. Sehet, die vierte Kerze brennt … Schon ist nahe der Herr. Und feiner Niesel fällt auf die Notenblätter. Es muss einer schon sehr dagegen sein oder sehr dafür, um an einem vierten Advent bei Regen im Freien zu singen. Am Sonntag sind die einen wie die anderen unterwegs im Dresdner Stadtzentrum. Sie haben sich zumindest für zwei Stunden gegen Bratwurst und Einkaufsgedränge mit Senf entschieden. Vor dem Eingang zur Galerie Alte Meister prallen die Stimmen von sogenannten Gutbürgern und Wutbürgern aufeinander und hallen im Gewölberund wider. „Humanität und Empathie sind stärker als Hass und Gewalt“, sagt Medizinprofessor Gerhard Ehninger vom neuen Bündnis „Dresden.Respekt“, das im Zwinger auftritt. Michael Stürzenberger, Gastredner bei Pegida auf dem Theaterplatz, sagt: „Es ist kein Wunder, wenn Moslems am Fließband hier unsere deutschen Frauen vergewaltigen!“
Der Sonntag in Dresden
Ein Stereoklang von zweifelhaftem Vergnügen. Ein Nebeneinander völlig verschiedener Denkweisen und Weltsichten. Der Riss, der durch die Gesellschaft geht, ist keine Erfindung, er wird in Sempers Echoraum fast körperlich spürbar. Gelegentlich verfängt sich ein Redefetzen im Galeriedurchgang. Eine männliche Mikrofonstimme beschwört die Hoffnung auf die Zukunft. Von welcher Seite die Stimme kommt, ist nicht genau auszumachen. Zukunftshoffnung schadet nie. „Gemeinsam sind wir stark“, sagt der Redner, welcher auch immer. Es soll ein weihnachtliches Singen für die gute Sache sein, die aber für die jeweils andere Seite die böse Sache ist.
Polizisten bilden lockere Trennwände. Der Polizeisprecher hofft auf Weihnachtsfrieden. Lediglich ein Autofahrer habe eine Demonstrantengruppe von Pegida recht scharf passiert. Es sei niemand verletzt worden, sagt der Sprecher. Insgesamt sind 368 Beamte im Einsatz. Manche tragen ihren Helm sorgsam wie ein Kleinkind auf dem angewinkelten Unterarm und schirmen die Antifaschisten ab, die mit Transparenten wie „Euer Rassismus kotzt uns an“ an der Sophienstraße stehen. Professionelle Schiedsrichter, die den Ausgang des vorweihnachtlichen Wettsingens beurteilen könnten, sind nicht unterwegs. Vermutlich wird jede Gruppe den Sieg für sich reklamieren. Oder: Sieger ist, wer über die leistungsstärksten Lautsprecher verfügt.
Wer tatsächlich zum Singen da ist, muss sich gedulden. Beim „3. großen Weihnachtsliedersingen“ von Pegida dreht sich erst mal alles um Politik. Lutz Bachmann, Mitbegründer der patriotischen Abendlandverteidiger, lästert, dass dem Oberbürgermeister nichts anderes eingefallen sei, als zu einer Gegenveranstaltung im Zwinger einzuladen. Dazu seien bezahlte Demonstranten angekarrt worden. „Es sind die Verlierer der Gesellschaft, die da hergefahren werden“, sagt Bachmann. Musikalisch wird es auch dann noch lange nicht.
Im Zwinger spricht der Oberbürgermeister auf der überdachten Bühne vorm Wallpavillon. Es nieselt stärker. Dirk Hilbert liest eine Geschichte vor. Sie handelt von einem pensionierten Lehrer, der drei Rumänen mit ihrem kaputten Auto aufsammelt, mit nach Hause nimmt und sie beköstigt. Am nächsten Morgen leiht er ihnen sein eigenes Fahrzeug, damit sie das Weihnachtsfest zu Hause feiern können. Er wundert sich, als sie am Vormittag zum vereinbarten Termin zurück sind – er hatte sie erst abends erwartet.
Auf dem Theaterplatz sagt Jürgen Elsässer vom rechtspopulistischen Magazin Compact, dass die „Brüder und Schwestern in der islamisch besetzten Zone in Westdeutschland“ nicht vergessen seien. „Wir halten die Fackel der Freiheit hoch, und wir denken an die Schülerinnen und Schüler in Bremen, in Hamburg und im Ruhrpott, die nicht mehr in der Schule Weihnachten feiern können, weil ängstliche Lehrer und feige Schulleitungen vor der islamischen Lobby einknicken und das Krippenfest und den Weihnachtsbaum verbieten.“ Lautstarkes, vielstimmiges Pfui und Buh aus dem Publikum. Es gilt nicht dem Redner.
Im Zwinger sagt Kunstministerin Eva-Maria Stange, dass sie wütend wird, wenn Menschen in der Öffentlichkeit angepöbelt werden, nur weil sie englisch sprechen oder eine dunkle Hautfarbe haben. „Was wären die Kunstsammlungen, und was wäre die Semperoper ohne Ausländer“, sagt die Ministerin. Ihre Amtskollegin Brunhild Kurth vom Kultus-Ressort sagt, dass sie das garstige Bild von Dresden, das derzeit in den Medien kursiert, so nicht stehen lassen will. Der Chor von Medizinstudenten lässt den Morgenstern leuchten. Bei Pegida dauert es 13 Minuten bis zum zweiten Weihnachtslied. Dort auf dem Theaterplatz wird „dieser Emmerling“ abgewatscht. Gunther Emmerlich darf sich gemeint fühlen. Der Sänger tritt beim überparteilichen Bündnis „Dresden.Respekt“ auf und lobt mit einem Augenzwinkern: „Die Sachsen sind weltoffen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Als geborener Thüringer habe ich hier Asyl gefunden.“ Emmerlich lässt leise einen Engelchor singen und reist gleich weiter zum nächsten Auftritt nach Chemnitz. „Hört das Lied, das nie verklingt …“
Bei Pegida fragt der Politiker Michael Stürzenberger wie fast immer, wenn er bei Pegida spricht: Ob die Dresdner einverstanden seien, wenn Weihnachtsmärkte in Wintermärkte umbenannt werden. Ob sie sich kniend unterwerfen oder stehend kämpfen wollen. Die Menge entscheidet sich wie erwartet und skandiert „Widerstand. Widerstand. Widerstand“. Im Zwinger beschwört die Kultusministerin Weihnachten als Zeit der Besinnung, der Einkehr und Dankbarkeit. Im Zwinger wird eindeutig mehr gesungen. Auf dem Theaterplatz wehen mehr Fahnen.
Wäre Genuss ein Maßstab, würde die Aktion „Herz statt Hetze“ auf dem Schlossplatz gewinnen. Junge Leute braten in riesigen Pfannen Eierkuchenteig mit Apfelstücken. Ein Graubart hat schon mal was vorbereitet. In drei großen Schüsseln bringt er Petersilie, Pfefferminze und Koriander. Das wird mit verkocht. „Cooking Action“ heißt die Gruppe. Das Bühnenprogramm mit Banda Comunale, ehemaligen Kruzianern und anderen Künstlern funktioniert professionell. Sammelbüchsen machen wie im Zwinger die Runde. Die Aktionsgruppen „Herz statt Hetze“ und „Dresden.Respekt“ sammeln insgesamt mehr als 15 000 Euro für das Seenotrettungsprojekt Mission Lifeline. Ziel ist ein eigenes Schiff, um Geflüchtete aus dem Mittelmeer zu retten. Koriander und Petersilie stammen aus dieser Gegend. Wenn die Staatskanzlei an diesem Dienstag zum Singen und zum Verkosten einlädt, wird Stollen aus dem sächsischen Vogtland serviert.
„Lass mal die Moschee im Dorf und lass das mit dem Hassen. Das ist doch nicht zu fassen“, singt Sebastian Krumbiegel von den Prinzen. Das Nieseln hat sich inzwischen zum handfesten Regen entwickelt. Vor der Bühne harrt eine überschaubare Hundertschaft aus. In den Museumsfenstern leuchtet das Licht. Das Weihnachtsliedersingen am vierten Advent endet auf dem Theaterplatz mit der Nationalhymne und im Zwinger mit arabischen Klängen. Wie wäre es, wenn das Publikum im nächsten Jahr mal die Plätze tauschte und die andere Seite besuchte?