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Kunst für die gewisse Stunde

Kurz vor der Sommerpause nimmt das Staatsschauspiel Dresden mit zwei spektakulären Inszenierungen Theaterplatz und Frauenkirche in Beschlag.

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© André Wirsig

Von Rafael Barth

Dresden. Diesmal wird die Altstadt zum Bühnenbild. Die Zuschauer sitzen vor der Semperoper und beobachten einen illustren Reigen von Figuren, die sich dort unter freiem Himmel tummeln. Punk und Fußballfan gehören dazu, auch Winnetou und eine Zirkusgruppe. Aber das Touristengrüppchen aus Japan? Oder der Papa mit dem ningelnden Kind? „Im Idealfall weiß man am Ende nicht, wer wirklich mitgespielt hat“, sagt Uli Jäckle über sein Theatergroßprojekt, für das 120 Bürger seit Monaten proben. Die Premiere läuft an diesem Sonntagabend. Weil der Dresdner Theaterplatz während der Aufführung frei zugänglich bleibt, könnte es zu reizvollen Begegnungen zwischen Darstellern und Passanten kommen. Was für jede Theatervorstellung gilt, trifft hier umso mehr zu. Jäckle: „Jede Aufführung ist ein Unikat.“

Einfach nur den Posern zuschauen

Das ist typisch für die Inszenierungen von Uli Jäckle: Kunst und Leben verzahnen sich wie nur selten – auch, weil die Schauspieler im wirklichen Leben Bäcker oder Buchhalterin sind. Regisseur Jäckle, 56, kommt aus Hildesheim und hat in den vergangenen Jahren in der Sächsischen Schweiz zwei große Landschaftstheaterprojekte gestemmt, beide mit Dutzenden hochagilen Laiendarstellern vor einmaliger Bergkulisse. Es ging auch darum, dem Negativbild vom vermeintlichen NPD-Stammland etwas entgegenzusetzen.

Nun also Dresden und der Theaterplatz, zuletzt international bekannt geworden als Protestgelände von Pegida. Es gehe darum, sagt Jäckle, „diesen Platz mit einer anderen Identität zu besetzen“. Diesmal hat der Regisseur kein eigenes Stück inszeniert, sondern eines, das lange auf seiner Wunschliste stand, eines von Peter Handke. Der streitbare Österreicher schrieb 1992 „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“, ein Theatertext ohne Monologe und Dialoge, der einzig aus Regieanweisungen besteht. Eine Sammlung von Szenen, manche könnte man so oder ähnlich beobachten von einem Caféhausstuhl oder von der Sitzbank aus, wie sie am Rand des Theaterplatzes steht. Dabei sei das kein Ort zum Verweilen, stellt Jäckle fest. Die meisten Leute kämen nur, um Fotos zu schießen. Eine Pose, die sich fürs Theater prima nutzen lässt.

Jäckle hofft, dass sich sein Publikum von der Mischung aus Alltäglichem und Mystischem fesseln lässt. Er lädt die Zuschauer ein, „einfach mal zu sitzen und zu gucken, was passiert“. Handkes Text, immerhin ein Vierteljahrhundert alt, hat Jäckle an ein paar Stellen in die Gegenwart geholt und gekürzt. So verspricht er, die Stunde aus dem Stücktitel als Spieldauer einzuhalten. „Länger ist es nicht haltbar.“

Mit der Premiere an diesem Sonntag setzt das Staatsschauspiel Dresden einen Höhepunkt kurz vor dem Ende der Spielzeit. Das Freiluftspektakel mitten im Zentrum ist nicht nur ein weiterer, deutlicher Beleg dafür, wie sich dieses Theater ins Stadtgeschehen einmischt. Es zeigt auch abermals, wie viel Schlagkraft eine Interimsintendanz entfalten kann. Nach einer einzigen Spielzeit gibt Zwischenlösungschef Jürgen Reitzler im Sommer die Geschicke an den neuen Theaterleiter ab.

Ob auch der den Mumm hat, dermaßen heikle Orte zu besetzen? Kurz vor der Sommerpause krallt sich das Staatsschauspiel nicht nur den Theaterplatz, sondern auch die Dresdner Frauenkirche. Dort führt der Berliner Allround-Künstler Christian von Borries am symbolträchtigen 17. Juni ein vielschichtiges Experiment auf.

Toleranztest in der Kirche

Von Borries kombiniert einen Text von Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, in dem Terroristen und deren Opfer zu Wort kommen, mit einem Fragment von Richard Wagner, der Jesus als Revolutionär feiert. Einen Teil der Musik hat ein Computer komponiert, der zuvor mit Partituren von Wagner und Bach, mit Märschen und Pop gefüttert wurde. Es spielen 24 Ensemblemitglieder des Staatsschauspiels, die Dresdner Sinfoniker, und Video gibt es auch. Von Borries versteht seine Orchesterperformance „Wut – Jelinek, Wagner und ‚Jesus von Nazareth‘“ als Kommentar zum Ort. Dass sie nur ein einziges Mal in der Frauenkirche zu erleben ist, ist für ihn ein Zugeständnis an die Hausherren: „Danach würden die uns nicht mehr reinlassen.“

„Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ auf dem Dresdner Theaterplatz: Premiere am 11. Juni, wieder am 12., 16., 17., 18. und 19. Juni.

„Wut – Jelinek, Wagner und ‚Jesus von Nazareth‘“ einmalig am 17. Juni, 19 Uhr, Frauenkirche Dresden.

Karten: 0351 4913555