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Kraftakt für ein Sterben in Würde

Die ersten Kalkulationen wurden auf der Basis eines Modellversuches in Dresden vor fünf Jahren erstellt.

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© Pflegedienst Kiese/SZ-Bildstelle

Von Frank Seibel

Niesky. Helmut Schmidt konnte sich seinen letzten Wunsch erfüllen. Der Altkanzler hatte auf eigene Verantwortung die Klinik verlassen, um zu Hause sterben zu können. Mit diesem Wunsch war der herausragende Politiker und Publizist ein ganz normaler Mensch. Nur sechs Prozent aller Menschen in Deutschland möchten gerne die allerletzte Lebensphase in einem Krankenhaus verbringen und dort sterben. Doch für fast jeden zweiten Menschen geht dieser Wunsch nicht in Erfüllung – und der Kreis Görlitz steht in dieser Bilanz schlechter da als viele andere Regionen, auch in Sachsen. Vor allem der Raum Weißwasser ist eine Problemzone. Dies ist die einzige Region im ganzen Freistaat, in der es noch kein mobiles Pflegeteam für sterbenskranke Menschen gibt. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen ist die Belastung für Pfleger und vor allem für Ärzte hoch. Zum anderen steht die Finanzierung solcher Teams vor allem in dünn besiedelten Regionen auf tönernen Füßen.

Kordula Kiese hat es dennoch gewagt. Im Kreis Görlitz ist die Inhaberin eines Pflegedienstes in Niesky eine Vorreiterin. Seit vier Jahren schon leitet sie ein sogenanntes SAPV-Team. Die Abkürzung steht für „Spezialisierte ambulante Palliativversorgung“. Die palliative Arbeit bezieht sich auf das lateinische Wort „pallium“, das heißt übersetzt „Mantel“. Palliativtherapie heißt also so viel wie ummantelnde Behandlung. Die Lebensqualität und Selbstbestimmung schwerstkranker Menschen soll durch diese Unterstützung – so weit es geht –, erhalten bleiben, damit ein würdiges Leben bis zum Tod möglich ist. Symptome wie Atemnot, Schmerzen oder auch starke Ängste können mit entsprechenden Medikamenten behandelt werden. Darum kümmern sich die Teammitarbeiter, fahren zu ihren Patienten nach Hause und betreuen sie dort sehr eng. Mit den Hausärzten, Hospiz- und Pflegediensten sowie den Krankenhäusern der Region arbeitet die Palliativversorgung dabei zusammen.

Im Süden reicht das Gebiet des SAPV-Teams Niesky bis an die nördlichen Ortsteile der Stadt Görlitz heran, im Norden umfasst es noch die Gemeinden Rietschen und Boxberg komplett. Die exakte Grenzziehung ist wichtig im SAPV-System, das bundesweit erst wenige Jahre existiert. Denn jeder

Träger muss selbst mit den Krankenkassen Pauschalbeträge aushandeln, die pro Patient gezahlt werden. Bei dieser Kalkulation spielt es eine Rolle, wie viele potenzielle Patienten in einem Gebiet leben und wie weit die Wege zu ihnen sind. In der Summe muss ein Budget zusammenkommen, von dem sich ein Team finanzieren lässt. Die Pauschalen berücksichtigen allerdings nicht, wie lange die Betreuung eines Patienten dauert – drei Tage, drei Wochen, drei Monate? Rund 180 bis 200 Euro kostet die Versorgung eines Patienten pro Tag, sagen Gesundheitsexperten. Darin sind die Kosten für Medikamente, Pflegemittel und Arbeitszeit von Pflegern und Ärzten enthalten. Aber keineswegs immer reichen die Pauschalen aus, die tatsächlichen Kosten der SAPV-Teams zu decken.

Die ersten Kalkulationen wurden auf der Basis eines Modellversuches in Dresden vor fünf Jahren erstellt. Und obwohl die Modalitäten seit dem ersten Modellprojekt vor fünf Jahren immer wieder angepasst und verbessert wurden, wird ein Faktor immer noch vernachlässigt: die Fahrtkosten. Die sind in einer Stadt naturgemäß niedriger als in einer ländlichen Region, sagt der Geschäftsführer des Landesverbandes für Hospizarbeit und Palliativmedizin Sachsen e. V., Sebastian Rudolf.

„Die Wirklichkeit ist oft anders als die Planung“, sagt Kordula Kiese, die Leiterin des SAPV-Teams Niesky. „Wenn ein Patient Luftnot hat, dann hat er sie jetzt und braucht sofort Hilfe.“ Das könne man nicht aufschieben, egal, ob der Patient fünf oder 25 Kilometer entfernt wohne. Im Schnitt müsse man rund 20 Kilometer zum Patienten fahren – und dieselbe Distanz wieder zurück. Doch der Bedarf an der häuslichen Versorgung todkranker Menschen ist offenkundig groß. Seit August 2011 habe ihr Team rund 480 Patienten betreut, sagt Kordula Kiese. Zu ihrem Team gehören derzeit acht Krankenpflegerinnen und Pfleger und fünf Ärzte, drei mit eigenen Arztpraxen und zwei Klinik-Ärzte. Damit steht Niesky besser da als die Kreisstadt Görlitz. Dort nämlich gibt es keinen einzigen Arzt, der sich an der häuslichen Betreuung von unheilbar Kranken Patienten beteiligt, obwohl am Städtischen Klinikum vier Ärzte dafür ausgebildet sind. Die Ärzte im SAPV-Team Oberlausitz, das für den südlichen Landkreis zuständig ist, kommen alle aus der Region zwischen Löbau und Zittau. Auch in Weißwasser fehlt es seit Jahren an Partnern. Und im eigenen Landkreis ist offenbar auch keine Lösung in Sicht, teilt das Landratsamt mit. Derzeit verhandele man mit Pflegern und Ärzten aus dem Kreis Bautzen, um Weißwasser doch noch in die mobile Palliativversorgung aufnehmen zu können. Warum sich Ärzte bisweilen schwer tun, in einem SAPV-Team mitzuarbeiten, erklärt der Ärztliche Direktor des Städischen Klinikums Görlitz, Dr. Eric Hempel, mit der hohen Arbeitsbelastung. Obwohl Patienten meist mittags aus der Klinik nach Hause entlassen werden, können die Ärzte erst nach Dienstschluss in ihrem Hauptberuf zu Hausbesuchen aufbrechen. Der Arzt muss sich vor Ort in die Krankenakte einlesen, selbst eine Diagnose formulieren und die Behandlung mit den Pflegekräften absprechen. Mit An- und Abfahrt sind das oft drei Stunden, sagt Hempel. Dazu kommt meist noch das Ausfüllen umfangreicher Dokumente für die Krankenkasse.

Das Problem der Arbeitsbelastung würde sich freilich verkleinern, wenn mehr Ärzte überhaupt bereit wären, sich für die palliative Medizin zu qualifizieren. Von 365 000 Ärzten in Deutschland hätten nur drei Prozent eine entsprechende Ausbildung, sagt Sebastian Rudolf vom Landesverband für Hospizarbeit und Palliativmedizin. Sachsen gilt insgesamt zwar als gut versorgt. Doch die meisten Palliativ-Ärzte arbeiten an Kliniken, wo sie unheilbar Kranke stationär behandeln. In der ambulanten Versorgung fehlen sie häufig noch.