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Knapp dem Tod entwischt

Ein Mann kämpft sich nach jahrelanger Alkoholsucht zurück ins normale Leben. Noch wohnt er in einer Obdachlosenwohnung.

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© Norbert Millauer

Von Nina Schirmer

Radebeul. Tobias G.* steht wieder ganz am Anfang. Zwei Ordner mit Dokumenten sind alles, was von seinem alten Leben übrig ist. Ein paar Klamotten noch. Was für andere nach einer Horrorvorstellung klingen mag, war für den Radebeuler vielleicht die letzte Chance. Denn an dem Punkt, an dem er stand, ging es nicht mehr weiter. „Eine Woche länger und ich wäre weg gewesen“, sagt der 37-Jährige. Im Suff gestorben. „Ich hätte es nicht mal mitgekriegt.“

An den Wänden in seiner Einraumwohnung hängen viele Zeitungsartikel. Die meisten hat Tobias G. aus dem Wirtschaftsteil ausgeschnitten. Es geht um Falschspieler an der Börse oder das Geschäftsmodell von Datingportalen. Die Texte interessieren ihn, auch wenn er selbst mit diesen Themen nichts zu tun hat. Das Zimmer ist spärlich eingerichtet, aber freundlich. Ein Schrank, zwei Stühle und ein Tisch, auf dem eine Vase mit gelben Tulpen steht. Die grau-lila-gestreifte Bettwäsche liegt ordentlich auf dem Bett. Alles ist picobello sauber. Im Fernsehen läuft eine Dokumentation bei Phoenix. Das TV-Gerät gehört Tobias G. Alles andere nicht. Seit Dezember wohnt er in einer Obdachlosenwohnung.

Die möblierten Unterkünfte stellt die Stadt zur Verfügung, um zu verhindern, dass jemand auf der Straße landet. Es gibt eine Obdachlosenwohnung mit zwei Plätzen und vier sogenannte Nachzugswohnungen. Wenn jemand wegen einer Räumungsklage aus seiner Wohnung fliegt, erfährt die Stadt davon.

Tobias G. hat sich nach einem Klinikaufenthalt selbst um die Unterkunft gekümmert. Der schlanke Mann sitzt am Tisch. Die Brille hat er auf die Stirn geschoben. Immer wieder wischt er sich beim Erzählen mit den Händen übers Gesicht. „Man hat so vieles durch“, sagt er. Jahrelang ist er niemals komplett nüchtern. Mit dem Alkohol geht es schon während seiner Lehre zum Trockenbaumonteur los. Zuerst betrinkt er sich auf Partys am Wochenende, dann kommen ein paar Bierchen unter der Woche dazu. „Es hat sich sukzessive gesteigert“, sagt der 37-Jährige. „Irgendwann wurde es richtig schlimm.“ Tobias G. trinkt schließlich auch auf der Arbeit. Heimlich, wie er damals denkt. „Es war völlig dumm zu glauben, dass es niemand mitkriegt“, sagt er heute. Allein sein Atem muss ihn verraten haben. Letztendlich wird das Arbeitsverhältnis beendet.

Zwei Wohnungen versoffen

Es folgt der totale Absturz. „Das Kartenhaus ist komplett zusammengestürzt“, erzählt er. Erst die eine Wohnung versoffen, dann die nächste. Tobias G. zahlt keine Miete, macht Schulden, fliegt irgendwann raus. Und jeden Tag wieder Alkohol. „Mein Leben war eine Katastrophe.“ Im September 2016 bringt ein Freund ihn in die Klinik. Wahrscheinlich hat der Kumpel ihm damit das Leben gerettet. Im Krankenhaus stellen die Ärzte fest, dass die eine Hälfte seiner Leber schon tot ist. Für die andere besteht noch Hoffnung, dass sie sich regeneriert.

Auf der Station ist Tobias G. das erste Mal seit Jahren wieder komplett nüchtern. Und er merkt, dass sich etwas verändert hat. „Die haben mich komplett resettet“, sagt er. Drei Wochen lang ist er zum Entzug in der Klinik. Der körperliche Entzug ist hart, der psychische auch. Aber da ist auch eine ungewohnte Energie. Das Verlangen, zu trinken, ist weg. „Der Kack-Alkohol interessiert mich nicht mehr“, sagt er jetzt. Wenn er im Netto Männer sieht, die offenbar Alkoholiker sind, möchte er am liebsten hingehen und ihnen helfen.

Woher dieser Wandel kommt? Tobias G. weiß es nicht genau. Will ihn auch lieber nicht hinterfragen. Er hat schon zu viel verpasst, möchte es jetzt nachholen, das normale Leben. Sein Alltag ist trotzdem eingeschränkt. Er muss extrem auf seine Ernährung achten. Fast Food ist wegen der kranken Leber tabu. Eigentlich dürfte er nicht mal Senf essen, weil der Branntweinessig enthält. Regelmäßig geht er zu einer Psychologin.

Mit der Abstinenz kommt Tobias G. klar. Schwieriger ist die Suche nach einer Wohnung. Denn in der städtischen Unterkunft kann er nicht für immer bleiben. Doch mit Mietschulden und einem Schufa-Eintrag ist es schwierig. Obwohl die Miete vom Amt bezahlt würde, sagen die Vermieter alle ab, sobald sie seine Vorgeschichte hören. „Mir war klar, dass mir niemand einen roten Teppich ausrollt“, sagt der Radebeuler. Trotzdem hofft er auf eine Chance. Immerhin hat er wahrscheinlich einen Job in Aussicht. „Zu meinem Glück fehlt mir nur noch eine eigene Wohnung.“

Bei Ikea hat er sich schon ausgemalt, wie die Räume aussehen könnten. Kein hoher Standard. Nur etwas Kleines. Was bleibt, ist vorerst die Hoffnung, nicht zu spät aufgewacht zu sein.

*Name geändert