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Kinderärztin ist überlastet

Uta Münch nimmt keine neuen Patienten mehr an, viele Eltern sind verzweifelt. Nun gibt es neue Berechnungen zum Bedarf – aber auch eine Lösung?

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© Sven Ellger

Von Annett Heyse

Wilsdruff/Klipphausen. Es ist Dienstagabend, 19 Uhr. Im Ärztehaus an der Nossener Straße in Wilsdruff ist Stille eingekehrt. Die Apotheke hat längst geschlossen, die Allgemeinmediziner und Internisten sind schon zu Hause. Licht brennt dagegen noch in der ersten Etage. Hier ist die Kinderarztpraxis von Uta Münch. Doch obwohl die Ärztin dienstags bis 16 Uhr Sprechstunde hat, war der letzte Patient erst nach 18.30 Uhr zur Tür raus. „Dass es länger geht, ist mittlerweile ganz normal“, sagt die Ärztin und sinkt müde auf einen Bürostuhl.

Ein Arbeitstag von zwölf Stunden und mehr sei für sie keine Seltenheit – sondern Alltag. Und dabei spricht Uta Münch nicht nur von der Winterzeit, wenn Erkältungskrankheiten und Magen-Darm-Infekte grassieren. „Sogar in den Sommermonaten rackern wir durch“, sagt die Medizinerin. Denn viele Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen, spezielle Behandlungen muss sie in die warme Jahreszeit verschieben, weil dafür im Winter zu wenig Zeit ist.

Inzwischen hat sich die Situation so zugespitzt, dass Uta Münch etwas tat, was sie sich niemals hatte vorstellen können: Sie wies ihr Personal an, keine neuen Patienten mehr aufzunehmen. Das gilt auch für Geschwisterkinder. Es habe ihr wehgetan, sagt sie. Ihr Mann, der in der Praxis als Arzthelfer arbeitet, wird da deutlicher: „Meine Frau hatte an dem Tag, als sie den ersten Patienten wegschicken musste, Tränen in den Augen“, sagt Sven Münch. Zu Frau Dr. Münch gehen auch viele Kinder aus Klipphausen, da sie im Umkreis die einzige Ärztin ist. Und wenn in Wilsdruff keine Patienten mehr aufgenommen werden, müssen die Eltern mit ihren Kindern woanders hingehen, zum Beispiel Richtung Nossen

Auch die Wilsdruffer Eltern stehen vor diesem Dilemma. Wer zuzieht oder ein Neugeborenes hat, muss sich anderswo einen Kinderarzt suchen. Aber wo? Die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen (KVS), die die ambulante medizinische Versorgung sicherstellen muss, rechnet vor, dass im Umkreis von fünf bis zehn Kilometern fünf weitere Kinderärzte tätig seien, unter anderem vier in Freital. „Sobald wir den Radius zehn bis 15 Kilometer von Wilsdruff aus betrachten, erweitert sich die Anzahl auf über 34 Kinderärzte“, teilt die KVS mit. Gemeint sind damit Mediziner in Dresden und Meißen, in Freiberg und Nossen. Aber den meisten geht es ähnlich wie Uta Münch – sie arbeiten an der Belastungs- und Kapazitätsgrenze. „Bei uns rufen doch schon Eltern aus Dresden an, die einen Kinderarzt suchen“, sagt Sven Münch.

Veraltete Berechnungen

Das kann doch alles nicht sein, dachte sich Judith Suchy. Ihre zwei kleinen Mädchen sind Patienten in der Wilsdruffer Praxis. „Da merkte ich schnell, dass es mit Terminen ganz schwierig und die Praxis überlastet ist.“ Als sie dann noch hörte, dass es Eltern gibt, die mit ihren größeren Kindern Patienten bei Dr. Münch sind und mit den Neugeborenen wegen des Aufnahme-Stopps zu einem anderen Arzt müssen, ergriff Suchy im Herbst 2015 die Initiative. Sie sammelte in Wilsdruffer Kitas mehr als 300 Unterschriften. Die Liste und einen Brief schickte sie an die Kassenärztliche Vereinigung. Auch die Stadtverwaltung Wilsdruff wies mehrmals auf die Lage hin. „Das sprach sich bis zu uns rum, Eltern riefen an“, sagt Bürgermeister Ralf Rother (CDU). Ihm ist sehr an einer guten kinderärztlichen Versorgung gelegen. „Wir haben eine stabil hohe Geburtenrate und Zuzug, vor allem viele junge Familien kommen nach Wilsdruff.“ Da müsse auch die medizinische Versorgung mitwachsen.

Der für die Bedarfsplanung zuständige Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen rechnet anders. Einer Erhebung von 1990 in den alten Bundesländern zufolge sollen auf einen Kinderarzt 3 990 Patienten kommen. In der Region Freital-Dippoldiswalde gibt es sieben Kinderärzte und laut Statistik 19 302 minderjährige Einwohner. Pro Arzt macht das theoretisch 2 750 Patienten – also eine Überversorgung.

Allerdings sind die Zahlen verzerrt. In ihrem Antwortschreiben an Judith Suchy gibt die Kassenärztliche Vereinigung selbst zu, dass es in den neuen Bundesländern eine ganz andere Definition von „Kinderarzt“ gibt. Die stellen nämlich die gesamte ambulante Versorgung sicher, von der einfachen Erkältung angefangen. In den alten Bundesländern gehen die jungen Patienten mit kleinen Wehwehchen zum Allgemeinmediziner. Erst der schickt die Mädchen und Jungen unter Umständen zu einem Spezialisten, dem Facharzt Kinderheilkunde und Jugendmedizin. „In unserer Region decken wir ein viel größeres Spektrum ab und haben einen ganz anderen Zulauf“, bestätigt auch Uta Münch.

Das hat man nun auch beim Landesausschuss gemerkt. Ende Oktober wurden erstmals seit 26 Jahren Neuberechnungen veröffentlicht. Nun steht keine Überversorgung in der Weißeritzregion mehr in der Tabelle, sondern eine 0,5. Es wird also zwischen Freital und Dipps eine halbe Stelle besetzt. Uta Münch hofft, dass jemand nach Wilsdruff kommt. „Die Praxis ist so ausgelegt, dass hier zwei Kinderärzte arbeiten können.“ Genug Patienten gibt es auf jeden Fall: Die Einwohnerzahl ist in diesem Jahr erneut gestiegen.