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Kinder deutscher Väter verklagen Norwegen

Der Gerichtshof für Menschenrechte befasst sich mit Drangsalierung und Misshandlung nach Ende des 2. Weltkrieges.

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Von Andre Anwar, Stockholm

Der Fall liegt mehr als sechs Jahrzehnte zurück. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat Norwegens Regierung versucht, rund 9000 Kleinkinder nach Australien zu deportieren. Als Australien sie nicht aufnehmen wollte, mussten sie in Norwegen eine Kindheit voller Entbehrungen, Diskriminierungen und Misshandlungen erdulden. Das einzige „Verbrechen“ dieser Kinder: Sie hatten deutsche Väter. Inzwischen befasst sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg mit dem Thema.

Systematische Übergriffe

Insgesamt 158 deutschstämmige Männer und Frauen aus Norwegen, die ihre Kindheit als ungeliebte „tyskebarn“ (Deutschkinder) in Norwegen verbringen mussten, haben gegen den norwegischen Staat geklagt. Sie wollen den Gerichtshof davon überzeugen, dass sie „systematischen Übergriffen ausgesetzt worden sind, die bis in die Gegenwart reichen“. Der norwegische Staat habe Gesetze und Verordnungen geschaffen, die eigens der Drangsalierung der „Deutschkinder“ dienten. Zwischen 500 000 und zwei Millionen norwegische Kronen (60 000 bis 244 000 Euro) verlangen sie als Schadensersatz. Die Forderung stützt sich auf eine Feldstudie, die zwischen 1999 und 2004 umfangreiches Material und Augenzeugenberichte auswertete. Die Studie war vom norwegischen Forschungsrat finanziert worden.

Der norwegische Historiker Jan Eidi befasst sich seit Langem mit dem Thema „Deutschkinder“. Nach seinen Angaben hatten rund 70000 norwegische Frauen während der deutschen Besetzung ein Verhältnis mit deutschen Soldaten. Rund 12 000 Kinder gingen aus diesen Beziehungen hervor. „Davon wurden etwa zehn Prozent freiwillig an Heime des Lebensborn-Programms der SS abgegeben“, sagte Eidi der SZ. Dies sei aber nur dann geschehen, wenn sich die Mütter nicht selbst um die Kinder kümmern wollten. Die überwiegende Mehrheit der Kinder sei bis 1945 bei den Müttern gewesen.

Nach Kriegsende wurden Tausende norwegische Frauen verhaftet. Etwa 5000 von ihnen ohne Prozess für mehr als ein Jahr in Zwangsarbeitslager gesteckt. Die Kinder kamen in sogenannte Spezialschulen oder wurden einfach zwangsadoptiert.

Noch heute gibt es in Norwegen Frauen, die nicht wissen, wo sich ihre damals verschleppten Kinder befinden. Für die Kinder waren körperliche und seelische Misshandlungen sowie sexueller Missbrauch an der Tagesordnung. Sie galten als völlig rechtlos.

Geschlagen und verspottet

„Ich musste mich übergeben, als ich die ersten Erzählungen zu hören bekam“, sagt Tor Brandacher. Seit 18 Jahren bemüht er sich, das Schicksal der Kinder systematisch ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. „Ein Teil der Kinder wurde in einem Kinderheim in Haugesund untergebracht, wo sie in ihren Kleiderschränken eingesperrt wurden. Das Essen bestand aus Überresten von Fischen und Kartoffeln, welche die Kinder vom Boden aufessen mussten“, sagt er. In einem anderen Kinderheim sollen Kinder regelmäßig durch die Straßen getrieben worden sein, sodass die Bewohner sie schlagen und verspotten konnten.

Norwegen hat bisher sämtliche Forderungen nach Schadensersatz zurückgewiesen. Die Übergriffe seien von einzelnen Personen verübt worden, nicht aber vom norwegischen Staat. Zahlreiche Historiker sind der Ansicht, dass die Kinder mit deutschen Vätern offiziell durch den Staat diskriminiert worden sind. Staatliche Stellen sollen es gewesen sein, die „Deutschkinder“ nach Kriegsende als „entwicklungsgestört“ eingestuft hatten.

Der damalige Sozialminister Sven Oftedal soll nach 1945 die Deportation der Kinder deutscher Väter nach Australien gefordert haben. Die „Hitlerkinder“ könnten eine Art stille Reserve eines wiederkommenden NS-Regimes in Deutschland werden, fürchteten damals zahlreiche norwegische Bürger.