Merken

Kinder adoptieren ihre Schule

Warum? Sie bekommen dafür Geld, mit dem sie die Geschichte des Hauses und seine Bauweise erforschen können.

Teilen
Folgen
NEU!
© Klaus-Dieter Brühl

Von Susanne Plecher

Großenhain. Graue Bruchsteine, dazwischen Mörtel. Eine simple Mauer. Das kennt man, das hat jeder tausendfach gesehen. Für Susanne Reichle jedoch ist keine Mauer einfach nur eine Mauer. Und die im Keller der ersten Grundschule schon gleich gar nicht. Mit den kundigen Blicken einer Architektin, die sich seit vielen Jahren im Verein für Baukultur engagiert, sieht sie in Struktur und Aufbau, was Otto-Normal-Mauerbetrachter nicht wahrnimmt. Frau Reichle hockt nicht auf ihrem Wissen, sondern teilt es gern – und nimmt Grundschüler mit auf die Reise.

Die wissen natürlich längst, dass ausgerechnet jene grauen Steine Teile der alten Stadtmauer sind, die 1975 beim Bau des Schulanbaus zutage traten. Aber, dass es sich hierbei um das Fundament eines Schalenturms oder Rondells handelt, davon haben sie noch nicht so viel gehört. Frau Reichle ist extra im Stadtarchiv gewesen und hat eine Stadtkarte aus dem Jahr 1663 aufgetrieben, um den Kindern zu verdeutlichen, was früher an der Stelle gestanden hat, wo sie heute lernen.

Die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte der Schule ist wesentlicher Bestandteil des Pegasus-Projektes, an dem neun Schüler um Lehrerin Renate Kliem seit anderthalb Jahren arbeiten. „Schulen adoptieren Denkmale“ heißt dieses Programm des Kultusministeriums und des Landesamtes für Denkmalpflege. Der Freistaat prämiert jährlich 20 Projektideen mit jeweils 500 Euro. Die werden schon vor der Umsetzung gezahlt und finanzieren so von Anfang an das projektorientierte Lernen in Zusammenarbeit mit Experten des Denkmalschutzes und der Denkmalpflege.

Ein Modell vom Schulhaus

Das Denkmal, welches die Kinder von der Schubertallee adoptiert haben, ist ihr eigenes Schulhaus inklusive Stadtmauer. „Vom Armenhaus und Knabenschule zur 1. Grundschule Großenhain“, heißt ihr Beitrag. Einmal wöchentlich treffen sie sich nachmittags, um sich der baulichen Hülle des Schulgebäudes auf besonderer Weise anzunehmen. Im letzten Schuljahr haben sie ein maßstabgetreues Modell des Hauses angefertigt. Lehrerin Kliem hat die dafür nötigen Unterlagen zur Größe, den Maßen und Ansichten im Bauamt organisiert. Susanne Reichle hat dann dabei geholfen, die Angaben zu verkleinern und aus den kopierten Blättern Schulhausmodelle anzufertigen.

In diesem Schuljahr sollen diese um die Außenanlagen erweitert werden. Natürlich gehört die mächtige Platane auch darauf, die im Eingangsbereich Richtung Schubertallee steht. Sie ist Teil des Schullogos, in dem sie Schutz und Ruhe verdeutlicht, die man unter einem Baum findet und die man sich als Lernbedingungen in einer Schule wünscht. Außerdem stehen die Schulgeschichte, die Stadtmauer als wichtiges Bauteil der Stadt und die städtische Entwicklung auf dem Projekt-Plan. Die Ergebnisse wollen die Kinder zur Denkmalsmesse in Leipzig zeigen.

Zurück zur Mauer, wo Susanne Reichle auf eine längliche Einkerbung hinweist. Darin lag früher wahrscheinlich die Holzbalkendecke. Dann kommen die Fragen: Wie dick ist so eine Mauer eigentlich? Wie alt ist sie? Die Architektin holt weit aus: Großenhain gehörte im Mittelalter wegen seiner Lage an der Via Regia zu den am stärksten befestigten Städten. Kaufleute hatten hier ein Stapelrecht, konnten Waren also lagern, es gab ein Münzprägerecht und den Färberwaid – alles Dinge, die Begehrlichkeiten weckten und geschützt werden mussten. Die Kinder lauschen und fragen nach.

Preusker hätte seine Freude daran gehabt. Er wusste: „Sollen die Wissenschaften ihren Zweck erfüllen, so müssen sie in das Leben übergetragen werden.“

Aus der Schulgeschichte

Das Gebäude wurde 1857 als Armenhaus errichtet.

1869 ist es Knabenschule geworden, 1919 allgemeine Volksschule.

Von 1924 bis 1937 war in drei Räumen die Jugendherberge untergebracht. Später zag das Heimatmuseum ins Dachgeschoss. 1945 diente es als Hilfskrankenhaus.

Ab 1948 war es wieder Schule: Grundschule, EOS, Sonderschule, Förderschule, seit 1993 1. GS.