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Keine Angst vor Förderschülern

Der Leseclub der Schule für Erziehungshilfe will sich gern auch für andere Kinder öffnen. Doch leider gibt es Vorurteile.

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© Brühl

Von Jörg Richter

Großenhain. Der kleine Rocco freut sich wie Bolle auf den Leseclub. Endlich ist der Unterricht vorbei und auch die Hausaufgaben sind gemacht. Also nichts wie hin in die Bibliothek, wo schon Marina Fischer wartet. Die 44-Jährige aus Kmehlen betreut ehrenamtlich den Leseclub in der Schule für Erziehungshilfe Priestewitz.

Rocco greift sofort nach dem Buch „Mystische Monster“. Darin werden alle möglichen Ungeheuer, über die auf der ganzen Welt gruselige Geschichten erzählt werden, detailliert beschrieben: Werwölfe, Mumien, Trolle, der Golem und viele andere. – Rocco geht in die 1. Klasse. „Er kann noch nicht lesen, aber das Buch kennt er auswendig“, sagt Marina Fischer. Auch „Gregs Tagebücher“ und die „Star Wars“-Bücher gehören zu den beliebtesten Schmökern des Priestewitzer Leseclubs. Zu dessen festem Stamm zählen acht Kinder. Nicht schlecht für eine Schule, die nur 70 Schüler hat. „Mit dieser Resonanz hatte ich gar nicht gerechnet“, sagt die ehemalige Altenpflegerin, die wegen Rückproblemen ihren Beruf nicht mehr ausüben kann. Umso mehr freut sie sich, den Kindern den Spaß am Lesen beizubringen. Gerade die Arbeit mit den verhaltensauffälligen Förderschülern reizt sie sehr.

Misstrauisch beobachtet

„Frau Fischer ist die ideale Besetzung“, sagt Musiklehrerin Sylvia Liebe, die den Leseclub leitet. „Sie geht vollkommen unvoreingenommen an die Sache heran.“ Diese Unvoreingenommenheit gegenüber den hiesigen Förderschülern würde sich Sylvia Liebe auch von den Priestewitzern wünschen. Die Lehrerinnen spürten deutlich, dass ihre Schützlinge, die aus dem ganzen Landkreis Meißen kommen, von den Einheimischen misstrauisch beobachtet werden. Der allgemeine Verdacht: Verhaltensauffällige Kinder sind laut und unberechenbar. Zumal die meisten von ihnen Jungen sind. Nicht mal jeder zehnte Priestewitzer Förderschüler ist ein Mädchen. „Die Jungen sind die Verlierer unserer Gesellschaft“, sagt Sylvia Liebe, vor allem, wenn sie aus sozial schwachen Verhältnissen kommen. Zurzeit würde viel über die Integration von Flüchtlingen depattiert. „Doch Förderschülern zu helfen, im Leben klarzukommen, ist auch eine Art Integration“, sagt die Musiklehrerin.

Nur zwei Leseclubs im Landkreis Meißen

Die Stiftung Lesen unterstützt im Rahmen des Förderprogramms „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung bis Ende 2017 250 Leseclubs in ganz Deutschland.

Zur Hilfe gehören kostenlose Bücher, Ausstattungsgegenstände sowie Weiterbildungen und Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Betreuer.

Über 7000 Kinder werden bereits in den Leseclubs regelmäßig erreicht, viele davon aus bildungsbenachteiligten Verhältnissen.

Leseclubs sind außerunterrichtliche Lernumgebungen, in denen sich Kinder und Jugendliche regelmäßig treffen, um gemeinsam zu lesen, zu spielen und mit verschiedenen Medien kreativ zu sein. Sie richten sich an Kinder im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren.

In Sachsen gibt es 14 Leseclubs. Zwei davon im Landkreis Meißen. Neben der Förderschule Priestewitz bietet auch der Sprungbrett Riesa e.V. einen an.

Quelle: www.leseclubs.de

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Hinter diesem Appell steckt ein Wunsch: Die Schule für Erziehungshilfe möchte ihren Leseclub und damit ihre Bibliothek auch für andere Kinder und Jugendliche öffnen. „Hier herrscht Ruhe, man kann sich entspannen. Deshalb ist unsere Bibliothek ja so toll“, sagt Sylvia Liebe, also ganz anders, als die meisten Außenstehenden es vermuten würden. In den letzten beiden Jahren hat der Leseclub 750 Bücher kostenlos von der Stiftung Lesen erhalten. Bis Ende 2017 könnten es noch einige Hundert mehr sein. Ein literarischer Schatz, der jetzt allen Priestewitzern zugänglich gemacht werden soll.

„Wir begrüßen es sehr, wenn der Leseclub sich nach außen öffnet“, sagt Claudia Dohlig, Projektmanagerin der Stiftung Lesen in Mainz. Je mehr Kinder den Priestewitzer Leseclub besuchen, umso besser. Normale Leseclubs hätten 15 bis 20 Mitglieder, größere sogar bis zu 50. „Aber das ist kein Muss“, sagt Claudia Dohlig. An den Nutzerzahlen würde die Förderung nicht festgemacht.

An jedem Unterrichtstag in der großen Pause (9.45 bis 10.15 Uhr) und zusätzlich mittwochs und freitags (13 bis 15 Uhr) ist die Bibliothek geöffnet. „Da haben andere Schulen im Vergleich zu uns echten Nachholbedarf“, sagt Sylvia Liebe nicht ohne Stolz. Und wer trotzdem noch Hemmungen hat, die Schule zu betreten, der solle ab 14 Uhr den Leseclub besuchen. Dann seien die meisten Förderschüler schon weg.