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Katastrophe bei den „Grauen Wölfen“

Die Torpedoschnellboote waren der Stolz der Volksmarine. Ein Copitzer diente in der Einheit, als beim Prager Frühling 1968 ein tragisches Unglück geschah.

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© Sammlung Arnold

Von Jörg Stock

Pirna. Gerd Arnold aus Pirna-Copitz sitzt in seinem Wintergarten und betrachtet das Bild eines Jünglings in Seemannsuniform. Dieser Jüngling ist er selbst, vor fünfzig Jahren, als Schnellbootmatrose bei der 6. Flottille der Volksmarine. Man nannte sie die „Grauen Wölfe der Ostsee“, erzählt er und grinst breit. „Heute sind wir nur noch grau.“ Damals war er stolz darauf, mit achtzig Sachen über die Wellen zu jagen. „Wir fühlten uns wie Helden.“ Die Tage des Prager Frühlings ernüchterten ihn jäh. Plötzlich waren sieben Mann seiner Einheit tot, Männer die er kannte. Und keiner wusste, wie es kam. „Da sagt man sich: Scheiße!“

„Wir taten immer so, als wäre Krieg.“ Der Copitzer Gerd Arnold (70) und sein Porträtbild als Schnellbootmatrose.
„Wir taten immer so, als wäre Krieg.“ Der Copitzer Gerd Arnold (70) und sein Porträtbild als Schnellbootmatrose. © Norbert Millauer
Das bei der Bergung zerbrochene Wrack der „Willi Bänsch“ im Stützpunkt Warnemünde.
Das bei der Bergung zerbrochene Wrack der „Willi Bänsch“ im Stützpunkt Warnemünde. © Archiv Förderverein Museums-Schnellboot Jever

Als am 21. August 1968 die Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschierten, um Dubceks Reformen zu stoppen, galt für die Nationale Volksarmee auch in der DDR erhöhte Gefechtsbereitschaft. Gerd Arnold diente da schon ein dreiviertel Jahr bei den Torpedoschnellbooten in Dranske auf Rügen. Er wollte später zur Handelsmarine, hatte sich deshalb freiwillig gemeldet. Dass sich was zusammenbraute bei den Tschechen, war ihm nicht bewusst, erzählt er. Die Vorgesetzten hätten darüber geschwiegen. Krieg wurde ohnedies ständig gespielt. Die Mauer ging im Meer weiter, unsichtbar. „Man schärfte uns ein: Der Feind kann jederzeit kommen.“

Als die Intervention in tiefer Nacht beginnt, ist Gerd Arnold gerade auf Urlaub. Bei einem Kumpel in Bitterfeld hat er ein bisschen gefeiert. Der hat Westfernsehen. Dort sieht Arnold am Morgen sowjetische Panzer auf dem Wenzelsplatz. Wieder daheim erwartet ihn schon die Mutter, aufgelöst. Der ABV sei da gewesen, ihn zu suchen. Ein Telegramm ist angekommen, von Rügen: „Sofort zur Einheit zurück“.

In einem mit Rückkehrern vollgestopften Zug erreicht Arnold tags darauf den Stützpunkt. Was seine Offiziere über die Lage sagten, weiß er heute nicht mehr genau. Sinngemäß, dass die Konterrevolution in Prag zugeschlagen habe. Man müsse den Genossen helfen, die Errungenschaften des Sozialismus zu verteidigen. Die Torpedoschnellboote sollten die Westgrenze des Bündnisses sichern helfen. Näherten sich Nato-Schiffe den Gewässern der DDR, preschten die Boote ihnen entgegen und beschatteten sie, „damit sie nicht heimlich was Böses machten“, sagt Arnold ironisch. Auch sein Boot, Nummer 823 „Heinz Kapelle“, raste ruhelos über die Wogen. Die Gemüter waren erhitzt, sagt er. „Alle spielten verrückt.“

Die weiße Wand aus dem Nebel

Am 31. August kurz nach Mitternacht – Arnold und seine Kameraden schlafen diesmal in ihren Kojen – schrillt auf dem in Bereitschaft liegenden Schnellboot 844 „Willi Bänsch“ der Alarm los. Die bundesdeutsche Fregatte „Karlsruhe“ nähert sich mit hoher Geschwindigkeit. Die „Bänsch“ soll aufklären, was der Gegner plant. Obwohl dichter Nebel über der See hängt, rast das Boot mit seinem Begleitfahrzeug in voller Fahrt auf das Ziel zu. Die Fregatte aber dreht ab und ankert – unbemerkt. Was die „Bänsch“ nun im Radar hat, ist kein Angreifer, sondern das schwedische Fährschiff „Drottningen“, fahrplanmäßig unterwegs nach Trelleborg.

Der Marinehistoriker Ingo Pfeiffer bezeichnet das Geschehen als „selbst inszenierte Konfliktsituation“, in der die „Willi Bänsch“ ein Phantom jagt. Und das viel zu schnell. Erst als das Echo plötzlich vom Radar verschwindet, dämmert es dem Kapitän, dass sich das andere Fahrzeug schon in der „toten Zone“ bewegt, also unmittelbar an seinem eigenen Boot. Der als Ausguck aufs Vorschiff geschickte Torpedomechaniker sieht plötzlich eine weiße Wand neben sich. In Panik springt er über Bord.

Die „Bänsch“ – der Bootstyp wird wegen seiner leichten Bauart als „Holzpantoffel“ gehänselt – hat gegen die Fähre keine Chance. Das Heck des Bootes wird förmlich abrasiert, die Wrackteile versinken fünfzehn Meter tief in der Ostsee. Einige Marinesoldaten sind sofort tot, andere werden unter Deck eingeschlossen, wo sie qualvoll sterben. Von den 16 Besatzungsmitgliedern überleben nur neun. In einem Rettungsfloß treiben sie hilflos in der rauen See.

Als der Funkkontakt abreißt, alarmiert die Volksmarine eine ganze Flotte, die Männer der „Bänsch“ zu suchen. Auch Gerd Arnold fliegt aus der Koje. Kreuz und quer pflügt seine „Heinz Kapelle“ übers Meer, kann aber nichts entdecken. Im Morgengrauen findet schließlich ein anderes Torpedoschnellboot der Einheit die Schiffbrüchigen und bringt sie in Sicherheit.

Der Schock saß tief, sagt Gerd Arnold. Hätte sich so ein Unfall auf der „Heinz Kapelle“ ereignet, er wäre als Maschinist auch gestorben. Geärgert hat ihn, dass die Ursachen des Unfalls, vor allem das Fehlverhalten des Schnellbootführers, nie offengelegt wurden. Die Fähre habe die „Bänsch“ über den Haufen gefahren, hieß es. „Dabei hatten wir selber Mist gebaut.“ Die Toten erhielten ein Denkmal auf dem Stützpunkt und Orden. Kein Trost für Arnold und seine Kameraden. „Es war ein sinnloser Tod.“

Gerd Arnold diente bis 1970. Zur Handelsmarine durfte er nicht, wegen Westverwandtschaft. Er studierte Chemie-Anlagenbau und wurde Ingenieur bei der Pirnaer Kunstseide. Sein Boot, die „Heinz Kapelle“, wrackte er noch selbst mit ab. Vermutlich wurde es ein Geschenk an die Ostseefischer, versenkt als Wellenbrecher.