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Jungem Saudi droht Zwangslähmung

Er hat vor zehn Jahren einen Freund im Streit schwer verletzt. Nun fordert die Familie des Opfers grausame Rache.

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Von Martin Gehlen, SZ-Korrespondent in Kairo

Seine Mutter findet schon lange keinen Schlaf mehr. Zehn Jahre ist es her, dass das Unheil geschah. Damals geriet ihr 14-jähriger Sohn Ali Al-Khawahir mit seinem besten Freund aneinander und stach zu. Seitdem sitzt das Opfer im Rollstuhl, querschnittsgelähmt und ständig auf Hilfe angewiesen – ein zerstörtes Leben. Der minderjährige Täter kam hinter Gitter. Das Todesurteil durch die saudischen Richter blieb ihm erspart. Dafür droht dem heute 24-Jährigen nach Ende der Haft nun gleichfalls der Verlust seiner Gesundheit. Geht es nach dem Willen der Opferfamilie, sollen ihm die Nerven im Rückenmark durchtrennt werden. Abwenden lässt sich die am Wochenende vor Gericht durchgesetzte Querschnittslähmung nur, wenn der Verurteilte umgerechnet 200.000 Euro Blutgeld an das Opfer zahlt – Geld, das er und seine Mutter nicht haben. Der Vater ist vor Jahren gestorben, die Familie stammt aus einfachen Verhältnissen. Die letzte Hoffnung sind Spenden reicher Saudis. „Mein Haar ist grau geworden und ich erleide Todesängste, wenn ich an das Schicksal denke, was meinen Sohn erwartet“, zitiert die Zeitung „Saudi Gazette“ die 60-Jährige.

Möglich sind solche grausamen Strafen durch die vom Islam aus dem Stammesrecht übernommene Praxis der Blutrache, Qisas genannt, was wörtlich Vergeltung oder Züchtigung heißt. In Saudi-Arabien und Iran darf eine vorsätzliche Körperverletzung oder ein Mord gerächt werden durch eine gleichartige Verwundung beziehungsweise durch die Tötung des Täters.

Und so erinnert der spektakuläre Fall des jungen Saudis Ali Al-Khawahir an die iranische Studentin Ameneh Bahrami, deren Schicksal vor zwei Jahren um die Welt ging. Sie war durch eine Säureattacke eines abgewiesenen Liebhabers schwer entstellt worden und erblindet. Durch alle Gerichtsinstanzen beharrte sie darauf, dass auch die Augen ihres Peinigers verätzt werden – und bekam recht. 2011 ließ Ameneh Bahrami den Täter aus der Haftanstalt in einem Teheraner Krankenhaus vorführen, ersparte ihm jedoch in letzter Minute den Verlust seines Augenlichts. Über die Höhe der Entschädigung schwieg sie sich aus.

Saudische Gerichtsverfahren verletzen „in punkto Fairness und Gefangenenrechte selbst die einfachsten Normen“, urteilt die Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“. Geständnisse werden durch Folter erpresst, Bürger selbst für kleinere Vergehen ausgepeitscht. Bei Drogenschmuggel, Ehebruch oder Gotteslästerung droht die Todesstrafe, einem Dieb kann die rechte Hand amputiert werden. Jemanden mit einer Querschnittlähmung zu bestrafen, das jedoch war in Saudi-Arabien bislang nicht möglich. Bereits vor zwei Jahren suchte ein Richter nach einem Weg, einen Verurteilten per Operation am Rückgrat lähmen zu lassen. Damals lehnten alle Krankenhäuser ab.