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„Jeder Mensch ist ein Stern für sich“

Der Schriftsteller und Ex-Verleger Michael Krüger warnt in seiner Dresdner Rede vor dem Verlust der Erinnerung unter dem Beschleunigungsdruck der Gegenwart. Dabei sucht er sich einen großen Erzähler als Verbündeten.

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© Robert Michael

Von Karin Großmann

Der Seminarmarkt bietet Bogenschießen für Führungskräfte und Intensivkurse zur Selbstoptimierung. Ziel ist stets die höhere Effizienz des Einzelnen. Kein Teilnehmer dort käme auf die Idee, einen Satz mit den Worten zu beginnen: Früher haben wir aber … Das gäbe ein schallendes Gelächter. Früher ist out, aus und vorbei, und da ist es egal, ob von Ereignissen des vorigen Jahrhunderts die Rede ist oder von Erfahrungen der vorigen Woche. Was zählt, ist allein das Heute.

Gegen das Vergangenheitsvergessen redet Michael Krüger an. Er tritt dem Zeitgeist auf die Zehen und plädiert für das Bewahren von Wissen und Werten. Immer wieder kommt er zurück auf die Frage, mit der er seine Dresdner Rede an diesem Sonntagvormittag im Schauspielhaus beginnt: Brauchen wir die Erinnerungen? Stören sie nicht beim Vorwärtskommen? Was sind sie mehr als eine sentimentale Substanz, ein Rückzugsort, wenn es draußen allzu toll stürmt und donnert? Früher haben wir aber … Wen interessiert das noch?

Krüger selbst verortet sich in seiner Rede bei Geistern von gestern. Er zitiert sie spielend herbei, die Herren Nietzsche, Goethe und Schopenhauer, Niklas Luhmann und Oliver Sacks. Das geht weit zurück bis in die Antike, bis hin zum bärtigen Philosophen Sokrates. Während seine Häscher mit Fingerspitzengefühl schon den tödlichen Cocktail aus Schierling mischten, übte er ein Lied auf der Flöte. Gefragt nach dem Grund, antwortete er: „Dazu, dieses Lied zu können, bevor ich sterbe.“

Krüger erzählt diese Anekdote, weil darin wohl auch der tiefe Grund für sein eigenes Tun verborgen liegt. „Es gibt keinen Sinn, der dem Leben und der Kunst von selbst innewohnt. Wir müssen ihn, bis zur letzten Sekunde, dem Leben und der Kunst erst verleihen.“

Nichts anderes hat Michael Krüger mehr als vier Jahrzehnte lang versucht, zunächst als Lektor, dann als Leiter des Münchner Carl Hanser Verlags. Er entwickelte das Haus zur wichtigsten belletristischen Adresse im Land neben Suhrkamp. Er brachte 14 Nobelpreisträger heraus, von anderen Buchpreisträgern gar nicht zu reden. Mit untrüglichem Spürsinn für Qualität entdeckte er junge Autoren und pflegte in Werkausgaben das Erbe der älteren. Er wagte die tollkühne Edition zeitgenössischer Lyrik und hatte den wirtschaftlichen Erfolg des Verlags stets im Blick – obwohl das eine das andere auszuschließen scheint. Auf die Frage, wie viele Bücher seines Hauses er gelesen habe, antwortete er in einem Gespräch: „Alle. Und außerdem die Manuskripte, die nicht erschienen.“

Die Zeit, die dann noch blieb, die auf märchenhafte Weise geblieben sein muss, füllte er als Autor mit dem eigenen Schreiben: Gedichte, Erzählungen, Essays, Dankesreden, Vor- und Nachworte, mindestens 5 000 Seiten in jedem Jahr.

Ein freier, enthusiastischer Spaziergänger durch die Kulturlandschaften – so stellt Simon Strauß den Redner vor. Strauß ist Gastdramaturg bei Kafkas „Amerika“, das am Sonnabend Premiere hat, er ist Sohn von Botho Strauß, den Michael Krüger in seiner Rede „unseren klügsten Schriftsteller“ nennt. Auch bei diesem findet sich der Gedanke, dass die Zumutungen des immer Neuen ein Gegengewicht brauchen – ein Gegengewicht an Überliefertem und Verbindlichem. Angesichts des Schneller-Weiter-Höher der Optimierungsseminare wirkt der Rückgriff auf Gestriges schon fast wieder revolutionär.

Jahrhundertelang, so Krüger, haben Menschen mit wechselndem Erfolg Erfahrungen der Geschichte genutzt, um ihr Dasein zu bewältigen. Heute sei die Kategorie Geschichte zunehmend außer Kraft gesetzt und für die Zukunft fast ohne Relevanz. „Bei der nächsten Bankenkrise, bei der nächsten Flutkatastrophe werden wir uns daran erinnern, dass wir uns erinnern wollten, es aber leider vergessen haben – vergessen haben wie die Politik, die wir drei Monate nach der Wahl an ihre Wahlversprechen erinnern müssen.“

Zwei Alternativen beschreibt Michael Krüger angesichts dieses individuellen und gemeinschaftlichen Gedächtnisschwundes: Entweder man wehrt sich dagegen und wird als Hinterwäldler abgestraft. Manchen freilich trifft der Vorwurf zu Recht. Das grässliche Beispiel für reaktionäres Denken liefere die Pegida-Bewegung, die nichts vom Früher verstanden habe, so Krüger. „Selbst eingefleischte Konservative haben Angst davor, mit diesen Radaubrüdern, die das Früher auf die banalste und brutalste Weise vernichten wollen, in einen Topf geworfen zu werden.“

Der andere Weg heißt Anpassung: Man unterwirft sich mehr oder weniger freiwillig dem Beschleunigungsdruck der Gesellschaft. Dann freilich dürfe man nicht hoffen, mit Seufzern wie „Zu meiner Zeit …“ auf begierige Ohren zu treffen.

Dabei könnte gerade dieser Autor großartige Damals-Geschichten erzählen: Wie er mit ersten surrealistischen Gedichten Eindruck schinden wollte und bei den Mädchen doch nur zweite Wahl war hinter den Rock’n’Rollern. Wie er im Londoner Nobelkaufhaus Harrods ein Bücherpaket für die Queen zusammenstellte. Wie er Ende der Sechzigerjahre mit dem Verleger Klaus Wagenbach ein Jahrbuch für Gegenwartsliteratur erfand. Oder das: Wie er in Wittgendorf in der Nähe von Zeitz bei den Großeltern aufwuchs, ausgestattet nur mit der Bibel und einem Pflanzenbestimmungsbuch. Förster wollte er werden oder Forschungsreisender. Landschaften, Bäume, Gräser spielen heute in seinen Gedichten eine wesentliche Rolle. Das literarische Erbteil in Gestalt einer Großmutter, die als Kind bei Fontane auf dem Schoß saß, war letztlich stärker. Sie hat erzählt: Zu meiner Zeit … Er hat zugehört. Erfahrungen wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Jetzt ist Krüger 71 und schreibt an einem Roman mit dem Arbeitstitel „Das Testament“, um darzustellen, „was einem wirklich gehört und was man vererben kann“, wie er in einem Gespräch sagt.

Aber ach: Auch der Begriff der Generation ist nicht mehr der, der er mal war. Ein Mann des Wortes wie Michael Krüger hört genau hin. Die Kategorie der Generation, die früher ein Menschenleben umfasste, wurde auf wenige Jahre eingedampft, sagt er und spottet: „Heute beginnt die neue Computer- oder Auto- oder Hautpflegegeneration drei Monate nach der letzten, und wenn es vier Monate sind, dann sprechen wir bereits von einer neuen Ära, wenn es fünf sind, dann hat eine unfassbare Revolution stattgefunden.“

Es spricht für den Redner, dass er sich nicht abfinden will damit, dass andere sich abfinden mit dem Bedeutungsverlust von Erinnerungen. Denn dieser Verlust betrifft nicht nur den Einzelnen – die Allgemeinheit hat mit den Konsequenzen zu tun: „Von der Ukraine bis Griechenland, von Spanien bis Frankreich finden wir keine Spur mehr von Erinnerung an die Allgemeinverbindlichkeit von Werten, wie sie das Nachkriegseuropa auf den noch rauchenden Trümmern des verheerenden Weltkriegs verbündet hat.“ Die extreme Linke, so Krüger, verbinde sich mit der extremen Rechten, und jeder gehe mit jedem ins Bett, wenn es nur helfe, eine Wahl zu gewinnen. „Politik ist in den weitesten Teilen der Welt zu einem erpresserischen Geschäft geworden, weil die Erinnerung nicht mehr als Korrektiv funktioniert.“

Mögliche Gegenargumente lässt Michael Krüger nicht gelten. Und wer ihm mit dem Internet kommt, das doch alles und jedes aus der Vergangenheit speichere und bereithalte, muss erst recht mit Widerspruch rechnen. Der Ex-Verleger hat sich lange über den „Elektrohandel“ lustig gemacht, wie er das Geschäft mit E-Books nannte, bis er vor gut einem Jahr seinen Dienstschreibtisch verließ. In seiner Dresdner Rede stürzt sich Krüger zornig auf die „gefräßige Spinne im Datennetz“, die sogar die Träume überwache und sie blitzschnell in handfeste Wünsche umsetze.

Um zu zeigen, was Erinnerung ausmacht und wozu sie gut ist, verbündet sich Michael Krüger mit dem Schriftsteller Danielo Kiš. Der Autor, geboren in einem Ort nördlich von Belgrad, gewann aus den Kämpfen mit sich und seinem Umfeld vier, fünf überragende Bücher, „wie im Rausch geschrieben in der Einsamkeit und bis zum Äußersten verdichtet“. Von Danielo Kiš, 1989 in Paris gestorben, erzählt Krüger eine Geschichte nach von einer Enzyklopädie der Toten. In dieser Enzyklopädie ist jeder gestorbene Mensch verzeichnet mit seiner Biografie. Nicht nur das: Jedes Lächeln und jeder Schmerz ist festgehalten, der Sonntagsanzug mit dem Rosmarinzweig am Revers und die erste Zigarette, der Weckruf des Kuckucks von der Wanduhr und das Mädchen, das einen Krug kaltes Wasser reicht und den Durst stillt; die Kinderkrankheit und die Altersmelancholie.

Mit dieser detailversessenen Beschreibung eines einzigen Menschenlebens vermittelt Michael Krüger eine poetische Sternstunde. Und die Überzeugung: Dieser eine Mensch lebt nur weiter, weil es die Erinnerung an ihn gibt. Sie ist nicht austauschbar, denn nichts wiederholt sich. „Jeder Mensch ist ein Stern für sich“, sagt Krüger. „Jeder Mensch ist eine Erzählung, keine Zählung.“

Die Dresdner Reden sind eine Veranstaltung des Staatsschauspiels Dresden und der Sächsischen Zeitung.

Die Reden von Heinz Bude, Carla del Ponte, Jakob Augstein und Andreas Steinhöfel stehen als Download oder zum Nachhören unter: www.staatsschauspiel-dresden.de