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Jeder lebt für sich

Görlitz und Zgorzelec erklärten sich vor 20 Jahren zur Europastadt. Nach Euphorie herrscht nun Ernüchterung. Dabei ist an der Neiße viel erreicht worden. Nötig ist nun aber ein neuer Aufbruch. Start zu einer neuen SZ-Serie.

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© Nikolai Schmidt

Von Sebastian Beutler

Görlitz/Zgorzelec. Am Fuße der Peterskirche rücken Görlitz und Zgorzelec zusammen. An dieser Nahtstelle beider Städte spielt sich seit Jahrhunderten das Leben über die Neiße ab. Sechs Jahrzehnte unterbrochen, weil nach dem Zweiten Weltkrieg an dieser Stelle eine Verbindung fehlte. Nun steht seit 2004 die Altstadtbrücke. Lange Zeit als Bandmann-Brücke verschrieen, weil sich der langjährige CDU-Landtagsabgeordnete Volker Bandmann für den Brückenschlag an dieser Stelle gegen alle Widerstände eingesetzt hatte. Längst sind diese Meinungen verstummt, hat die Altstadtbrücke längst der Stadtbrücke deren Rang als bevorzugte Verbindung zwischen Görlitz und Zgorzelec abgelaufen. Wenn heute eine Veröffentlichung über die Zusammenarbeit beider Städte illustriert werden soll, lichten die Fotografen die Altstadtbrücke ab, richten die Kameramänner ihre Objektive auf sie.

Wann immer in der Stadt etwas passiert, eilen die Bürger zur Altstadtbrücke. Ob nun beim Altstadtfest oder beim Hochwasser, beim Königsumzug oder beim Tag der Oberlausitz, sei es bei Kunstaktionen oder zur Demonstration für die Freiheit der Ukraine. Die Altstadtbrücke sucht, wer für Europa eintritt. Und so feiern Görlitz und Zgorzelec am 5. Mai an der Altstadtbrücke auch die Proklamation der beiden Städte zur Europastadt – vor 20 Jahren. Obwohl die politische Unsicherheit nach der Abwahl des Görlitzer OBs im Mai 1998 groß war, lebte über alle politischen Strömungen die Vision, dass beide Städte hier auch das neue Europa aufbauen, das eben künftig auch die Staaten Mittelosteuropas umfasst, dass Görlitz und Zgorzelec ein Städtelabor für das Miteinander von Deutschland und Polen sein wollen und dass nur so die Zukunft gut gestaltet und der Frieden in Europa bewahrt werden könne. Als schließlich Polen 2004 der EU beitrat, schien es, als wenn der Vision nichts mehr im Wege stehen könnte. Keine Grenzkontrollen mehr, freier Austausch von Gütern und Menschen, grenzenlose Freiheiten – das einige, freie Europa schien über alle Anfeindungen hinweg erreicht. Der letztlich vergebliche Versuch der beiden Städte, Kulturhauptstadt Europas zu werden, galt nur als eine weitere Station auf einem Weg, der beide Seiten immer stärker näher bringen würde. Sogar von einem gemeinsamen Stadtrat träumte schon mancher.

Doch Geschichte verläuft nicht linear. Wenn am 9. Mai die Stadträte von Görlitz und Zgorzelec zusammenkommen, dann herrscht beim europäischen Zusammenwachsen Ernüchterung. Im Großen wie im Kleinen, in Polen und Deutschland. Von der Euphorie vergangener Jahre ist wenig übrig geblieben. Der Zgorzelecer Bürgermeister, Rafal Gronicz, selbst Europa und Deutschland zugewandt wie selten einer im Rathaus der polnischen Grenzstadt, beschrieb das jüngst zur Eröffnung der Literaturtage. Als Nachbarn würden sich Görlitzer und Zgorzelecer gut kennen, aber neue Begleiter seien Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus, Hassreden auf Straßen und im Internet geworden. Die Polen seien auf bestem Wege, sich selbst fremd zu werden, Gräben zu vertiefen, Brücken abzureißen – intern und zu ihren Nachbarn. Aber auch auf deutscher Seite fremdeln viele. Autoklau, Trinkerszene, Übergriffe in Silvesternächten – es gab immer wieder Anlässe, an denen altbekannte antipolnische Ressentiments aufs Neue aufbrachen. Als vor ein paar Jahren die Stadt eine weitere Brücke zwischen beiden Seiten plante, wandte sich die AfD dagegen, gewann große Unterstützung in der Bevölkerung und setzte mit einem Bürgerbegehren durch, dass die Pläne in der Schublade landeten. Da schlummern sie bis heute.

Die aktuellen Ernüchterungen verstellen aber auch den Blick auf das, was in den zurückliegenden knapp 30 Jahren erreicht wurde. Wie war denn die Situation 1989? Die Grenze zwischen Görlitz und Zgorzelec war dicht, ein Austausch fand praktisch nicht statt, die Görlitzer standen mit dem Rücken zur Grenze, die Meinung beider Seiten übereinander war schlecht, beinahe feindselig. Von Bruderländern keine Spur, an den Ufern der Neiße herrschte allenthalben Argwohn und Misstrauen. Dann gingen die Grenzen praktisch über Nacht auf, Fremde begegneten sich und machten erste Schritte aufeinander zu: Beim Tanken, beim Einkaufen, bei Stippvisiten im Riesengebirge. Das ist lange her. Heute machen Görlitzer Urlaub im Tal der Schlösser, gehen Essen auf der anderen Seite oder wandern auf dem Riesengebirgskamm entlang, vergeben Görlitz und Zgorzelec gemeinsam den Brückepreis, hat das Messiaen-Zentrum in Zgorzelec seine Arbeit aufgenommen, begegnen sich die Menschen bei Festen. Es gibt mittlerweile so viel gelebte Selbstverständlichkeit, dass man leicht Gefahr läuft, etwas zu übersehen oder zu vergessen.

Und doch kann die Selbstverständlichkeit vieler organisierten Kontakte eben doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Alltag mehr Nebeneinander als Miteinander herrscht, jeder lebt für sich. Und der Firnis der Zusammenarbeit bricht schnell. Wer grenzüberschreitende Projekte kritisch betrachtet, wird gleich des Nationalismus geziehen. Normalität sieht anders aus.

Zugleich aber begann mit der EU-Erweiterung eine Entwicklung, die erst in den vergangenen Jahren wirklich spürbar wurde, wenn auch sehr einseitig: Polnische EU-Bürger nehmen sich in Görlitz eine Wohnung, arbeiten und leben auf der deutschen Seite. Gemeldet sind mehr als 3 500 Polen in Görlitz, viele von ihnen gehen auch hier einer Arbeit nach: Ärzte, Physiotherapeuten, Kosmetikerinnen, Frisösen, Bauarbeiter, Fotografen, Journalisten, Künstler, Gastronomen – praktisch alle Berufsgruppen. Ihre Kinder gehen in die Kindergärten und Schulen, begegnen dort dem Nachwuchs der einheimischen Bevölkerung. Sie werden zusammen lernen, aufwachsen, miteinander streiten und lachen. Es ist die Zukunft beider Städte.

Die Proklamation der Europastadt ist ein abstraktes Jubiläum. Und doch könnte es in den nächsten Tagen und Wochen die Chance für Görlitz und Zgorzelec bieten, Bilanz zu ziehen und neue Initiativen für die gemeinsame Zukunft an der Neiße zu starten. Dann könnte dieses Jubiläum auch etwas bewirken und nicht nur für hehre Reden und Politikertreffen herhalten. Die SZ startet mit diesem Beitrag eine tägliche Serie bis Mitte Mai, in der wir Geschichten aus beiden Städten erzählen. Wir fragen danach, was war, was ist und was sein könnte. Wir nennen diese Serie selbstbewusst und voller Anspruch: „Geschichten aus der Mitte Europas“.

Lesen Sie in unserer Montagausgabe: Wie der Chef der Kulturstiftung Sachsen und damalige Görlitzer Bürgermeister, Ulf Großmann, die 20 Jahre seit 1998 einschätzt