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Türkei im doppelten Zangengriff

Hier die Milizen des „Islamischen Staates“, dort der wachsende Flüchtlingsstrom aus Syrien. Mehr Menschen ins Land lassen oder die Grenzen schließen? Egal, wie sich Ankara entscheidet - die Probleme werden sich verschärfen.

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© dpa

Herr Professor Steinbach, lange hat die Türkei zugesehen, wie in Syrien islamistische Milizen operieren, weil die das Regime in Damaskus schwächen. Geht es der türkischen Regierung nun wie dem Zauberlehrling, der die Geister nicht mehr los wird, die er rief?

Professor Udo Steinbach war 1976–2006 Direktor des Deutschen Orient-Instituts. Heute leitet er das Middle East-Center an der Humboldt-Viadrina School of Governance.
Professor Udo Steinbach war 1976–2006 Direktor des Deutschen Orient-Instituts. Heute leitet er das Middle East-Center an der Humboldt-Viadrina School of Governance. © Horst Galuschka

Das ist ein treffender Vergleich. Die Türkei wird doppelt in die Zange genommen – hier die Milizen des „Islamischen Staates“, dort der wachsende Flüchtlingsstrom aus Syrien. Noch mehr Menschen ins Land lassen oder die Grenzen schließen: Egal, wie sich die Regierung in Ankara entscheidet, die Probleme werden sich verschärfen.

Nun will auch Staatspräsident Erdogan gegen die IS-Milizen kämpfen. Wie erklären Sie sich den Sinneswandel?

So überraschend ist das nicht. Schon zu Beginn des Bürgerkriegs in Syrien vor mehr als drei Jahren hatte die türkische Regierung darauf bestanden, im Nachbarland zu intervenieren mit dem Ziel, das Regime von Baschar al-Assad zu beseitigen. Ankara musste sich aber zurückhalten, weil der Nato-Partner USA ein militärisches Eingreifen abgelehnt hatte. Deshalb hatte die Türkei – quasi als Ersatz – radikale Islamisten unterstützt. Nun wendet sich Ankara einer politisch-militärischen Lösung zu, die man schon 2011 angestrebt hatte.

Wenn die Türkei aktiv eingreift, droht dann in der Region ein großer Krieg?

Da sich die internationale Gemeinschaft entschlossen hat, in den Konflikt einzugreifen und die IS-Milizen zu bekämpfen, ist eine Beteiligung der türkischen Armee unabdingbar. Selbst wenn es gelingt, die Islamisten zu besiegen, bleibt eine Frage offen: Was soll mit dem Regime in Damaskus geschehen? Dass Assad weiter an der Macht ist, hat es den Extremisten erst ermöglicht, in einem staatsfreien Raum zu operieren.

Wie verlässlich wäre die Türkei als Partner im Kampf gegen die Milizen des Islamischen Staates?

In den letzten zwei Jahren konnte man sich über die Wendungen in der türkischen Außenpolitik nur wundern. Aber wenn die Entscheidung jetzt zugunsten der US-geführten Koalition gegen IS fällt, dann ist sie auch verlässlich. Ausgeräumt sind offenbar die Verstimmungen, die das Verhältnis zwischen Washington und Ankara zuletzt bestimmt hatten. Das jedenfalls war der Eindruck nach den Gesprächen, die der türkische Staatschef Erdogan und US-Präsident Obama vor Kurzem geführt haben.

Welche langfristigen Ziele verfolgt die Türkei in diesem Konflikt?

Ein Machtwechsel in Syrien steht für die Regierung in Ankara an erster Stelle. Dort weiß man, dass die scharfen religiösen Gegensätze und die ungelöste kurdische Frage destabilisierend auf die Türkei wirken.

Steckt dahinter auch der Führungsanspruch in der Region?

Dass die Türkei und der Iran dabei konkurrieren, ist ein offenes Geheimnis. Eine türkische Intervention in Syrien wäre nicht nur gegen die IS-Milizen gerichtet, sondern auch gegen das Regime in Damaskus. Offen ist, wie darauf der Iran reagiert, der zu den Unterstützern Assads gehört.

Die IS zu bekämpfen, könnte im Umkehrschluss bedeuten, die Kurden zu stärken. Vor welche Probleme stellt das die Regierung in Ankara?

Ich halte es für denkbar, dass sich die Kurden in Syrien nach einem Systemwechsel mit einer neuen Führung in Damaskus arrangieren. Sie dringen keineswegs auf eine Loslösung von Syrien, sondern auf ein föderalistisch organisiertes Staatswesen. Und damit kann die Türkei genauso gut leben wie mit der kurdischen Autonomie im Norden Iraks.

Wie realistisch ist der Traum der Kurden von einem eigenen Staat?

Das steht nicht auf der Tagesordnung, auch wenn Kurden-Präsident Massud Barsani kürzlich die Möglichkeit eines Referendums angedeutet hat. Doch das wäre keine gute Idee. Denn es ist unvermeidlich, dass sie bei den Nachbarn auf erheblichen Widerstand stößt – nicht nur in der Türkei.

Wie groß ist die Gefahr, dass sich auch in der Türkei junge Muslime radikalisieren?

Das geschieht längst. Genau das ist einer der Gründe dafür, dass Ankara das Problem mit den IS-Milizen aus der Welt schaffen will. Die Solidarisierungseffekte bei Islamisten in der Türkei sind unübersehbar. Die folgen den IS-Milizen nicht nur aus religiösen Motiven, sondern weil die ihnen auch einen Lebensunterhalt bieten können.

Rächt es sich jetzt, dass die Europäische Union die Türkei weiter vor der Tür warten lässt?

Beide Seiten haben nicht genügend dafür getan, den Annäherungsprozess voranzutreiben. Dahinter steht aber keine einseitige Entscheidung – weder in Brüssel noch in Ankara. Beide Seiten schienen gut damit leben zu können, dass sich die Türkei stärker dem Nahen und Mittleren Osten zuwendet. Es zeigt sich aber, dass das die schlechteste aller Varianten war.

Warum?

Es ist offensichtlich, dass die Türkei ohne die europäische Perspektive keinen klaren politischen Standort hat. Umgekehrt hat die EU ohne die Türkei keinen Einfluss auf Konfliktlösungen im Mittleren Osten.

Das Gespräch führte Frank Grubitzsch