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Ist Görlitz eine angemalte Totenkiste?

Das Hamburger Nachrichtenmagazin „Spiegel“ berichtet unter der Überschrift „Alles umsonst“ über Görlitz. Das führte in der Stadt zu heftigen Reaktionen und Diskussionen. Die SZ hat eine Auswahl zusammengestellt.

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© Jens Trenkler

Das Hamburger Nachrichtenmagazin „Spiegel“ berichtet über die Lage in Görlitz. Unter der Überschrift „Alles umsonst“ beschreibt Wissenschaftsredakteur Matthias Schulz, wie er die schön sanierten Häuser erlebte, in denen wenige Menschen leben. „Aufgehübscht und dennoch leblos, eine Stadt unterm Sauerstoffzelt des Bundesfinanz-ministeriums – vielleicht wirkt die Stätte deshalb ein bisschen wie ein Potemkinsches Dorf oder eine angemalte Totenkiste“, heißt es darin. In Görlitz führt das zu heftigen Reaktionen und Diskussionen. Und ins Grundsätzliche. Dahinter steht die Frage: War die Entwicklung seit 1990 ein Erfolg oder nicht?

So berichtet der „Spiegel“ über Görlitz.
So berichtet der „Spiegel“ über Görlitz. © SZ

Erst Löbau in „Spiegel TV“ jetzt Görlitz im „Spiegel“: Der Osten kommt beim Hamburger Nachrichtenmagazin derzeit nicht gut weg. Die Journalisten schlagen dabei auch einen despektierlichen Ton an, wenn sie beispielsweise über den Kampf der Stadt gegen die Abwanderung schreiben: „,Wir stemmen uns gegen die Abwanderung‘, sagt Oberbürgermeister Siegfried Deinege, 61, ein ehemaliges Mitglied der ,Kampfgruppen der Arbeiterklasse‘ im VEB Waggonbau. Dabei schaut der stämmige Stadtoberst so entschlossen, als könnte er den demografischen Wandel mit eigener Lendenkraft stoppen.“ Es sind solche Sätze, die verletzen und die durchaus zutreffende Botschaft überlagern, dass hinter mancher schönen Fassade in Görlitz wenig Leben herrscht. Und die auch heftige Reaktionen in der Görlitzer Bevölkerung hervorrufen. Wir haben einen Querschnitt von unserer Facebook-Seite zusammengestellt:

Die Abwanderung und Überalterung stellen ein enormes Problem dar. Zuziehende Rentner aus dem Westen verschönern zwar die Einwohnerstatistik, verschlimmern das Bild der alternden Stadt aber eher. Die wenige Arbeit, die es gibt, ist schlecht bezahlt. Vorzeigeunternehmen gibt es vielleicht drei, und davon wackeln zwei erheblich. Was hält einen jungen Menschen in Görlitz? Schöne Fassaden sicher nicht, eine gut bezahlte Arbeit und ein Partner im richtigen Alter schon eher. Selbst Letzteres ist ebenfalls schwer zu finden, wenn man den Statistiken Glauben schenkt. Eine positive Zukunftsperspektive kann man das nicht nennen. Wer kann, der geht weg, nach Dresden oder gleich in den Westen. Die Lausitz und auch Görlitz sterben in Zeitlupe. Das ist sicher sehr düster, aber ehrlich! Thomas Weigt, Kreisvorsitzender AfD Görlitz

Na, und viele der zugezogenen Neugörlitzer sind schon wieder weg, da fragt man sich warum. Ich denke, Görlitz ist nie aus seinem „Winterschlaf“ erwacht, und ein so untätiger Stadtrat hilft nicht, um zu erwachen. Ich habe 13 Jahren als Neugörlitzer dort gelebt, und das hat gereicht. Betti Eichhorn

Ich lebe lieber in Görlitz als in Duisburg/Marxloh oder Berlin/Neukölln und wie die Elendsviertel heißen. Ellen Ripley

Der Görlitzer Hochschulprofessor Matthias Theodor Vogt schreibt in der SZ: „Seit den Zeiten von Kurt Biedenkopf folgt die Staatsregierung der fatalen Ideologie der ,Wachstumskerne‘. Das will sagen, dass die Politik zuerst die Großstädte und hier wiederum besonders die Metropolen fördert. Dann lange nichts. Dann immer noch nichts. Dann die Großbauern. Und wenn dann nichts mehr übrig geblieben ist, dann werden ganz am Ende die Mittel- und Kleinstädte gefördert.“ Dagegen muss man etwas tun, denn die sogenannten Wachstumskerne haben sich für die ländliche Kultur wirklich nicht als hilfreich erwiesen. Die Kultur hat sich im Laufe der Zeit von einem weichen zu einem harten Standortfaktor gewandelt, sie ist bei potenziellen Investoren aus der Standortökonomie nicht mehr wegzudenken. Heutzutage sind Fragen nach dem Standort auch gleichzeitig Fragen der Investoren nach der kulturellen Vielfalt ihres Umfeldes. Ein wichtiger Faktor, der den Mut zur Ansiedlung befeuern kann und den jungen Menschen ein Gefühl der sozialen Sicherheit gibt. Aber wer soll das tun? Ein politisches Establishment, das den Rotstift immer zuerst an der Kultur und ihren Institutionen ansetzt? Hans-Peter Bauer

Irre ich mich oder ist der „Spiegel“ eher negativ gegenüber östlichen Landstrichen eingestellt. Ist jetzt schon der zweite Bericht nach dem über Löbau, der nur alles traurig darstellt. Ich lebe gerne hier und bin bewusst hierhergezogen. Arbeit hab ich auch. Man muss bewusst sein Leben in die Hand nehmen und nicht immer nur jammern und die Verantwortung anderen zuschieben. Monique Münch

Die grundlegende Problematik ist, dass die Stadtverwaltung Görlitz, der OB, Bürgermeister Dr. Wieler und die Stadtpolitik keine Konzepte für die Entfaltung der Jugend in der Stadt haben. Es werden keine Entwicklungsperspektiven für die Jugend angeboten. Die Monopolstellung von kommunalen GmbHs verhindert die Gründung von Startups. Unterstützung bekommen nur die Ideen von Michael Wieler und OB Deinege. Laurel Goldberg

Wo, bitteschön, ist der Stadtrat untätig? Schulen und Kitas weitgehend saniert, umfangreicher Straßenbau, neues Verkehrskonzept, bereits abgeschlossene Sanierungsgebiete, Werk I im Anflug, Familienbüro, demnächst der Brautwiesenbogen, Sanierung des Stadions, Synagoge. Zig Millionen wurden investiert. Im Übrigen entscheidet der Stadtrat nahezu in jeder Sitzung über Maßnahmen, die Arbeitsplätze sichern oder schaffen. Aktuelle Beispiele: Umgestaltung des Marktkaufgeländes, Erweiterung Alsa (einige Hundert Arbeitsplätze neu), Umwidmung eines Straßenabschnitts für die Vergrößerung eines Supermarktes (hätte sonst dichtgemacht), Öffnung der oberen Berliner im Interesse des Handels, demnächst Erweiterung des Landratsamtes mit Hunderten Arbeitsplätzen – und das alles in der Regel einmütig und ohne Schaukämpfe. Also: Fakten ansehen und dann urteilen. Joachim Schulze, Bündnisgrüner Stadtrat

Da hat einer bis heute nicht begriffen, woran es wirklich mangelt. Wie auch? Ganz sicher nicht an Familienbüros, Synagogen oder Millionen für einen Brautwiesenbogen. Grüne halt. Martina Hengst

Ich habe es nicht bereut, Görlitz zu verlassen... Das Beste, was mir passieren konnte, leider – trotz schöner Stadt, aber ich komme gern zu Besuch. Jana Nadler

Ich weiß nicht, was ihr alle meckert. Ihr habt das Basta, Second Attempt, nicht zu vergessen diverse Vereine, das Nostromo, die Kulturbrauerei – alles, was ihr wollt, ist da, und wenn es euch nicht passt, dann zeigt Initiative und gute Ideen. Außerdem kommt das soziokulturelle Zentrum, wo man sich auch einbringen kann. Ach so und das A-Team gibt es auch. Görlitz ist toll und wunderbar. Leider ist der Verdienst hier teilweise unterirdisch schlecht. Kann man drüber streiten, dafür sind die Lebenshaltungskosten immer noch sehr moderat, und es lebt sich wirklich gut hier. Die Frage ist, wie man jüngere Leute in die Stadt bekommt und das geht meist über Jobs, die dazu noch gut bezahlt sind. Uta Lothert

Ich lebe auch gerne in Görlitz. Es gibt schöne Wohnungen, es gibt bezahlbare Kita- und Hortplätze, meine Arbeit ist auch ganz gut bezahlt, es gibt wunderschöne Häuser und genug Grün, man kann alles mit dem Fahrrad erreichen, die Altstadt ist im Sommer schön wie ein kleiner Urlaub. Es gibt einen kleinen Berg und einen großen See. Mit den für meinen Anspruch wenigen Einkaufsmöglichkeiten habe ich mich arrangiert, dafür gibt es das Internet und meine Packstation. Ich habe eine Weile in Koblenz am Rhein gelebt. Das war auch schön, dort gab es allerdings kaum bezahlbare Kita-(insbesondere Krippen-)plätze. Die Großeltern waren nicht in der Nähe, das tägliche Leben war tatsächlich etwas teurer als hier. Caro Lin

Junge Leute haben es schwer in Görlitz Bauland zu bekommen. Wir haben gerade noch ein Grundstück gefunden, sonst hätten wir uns im Kreis Bautzen oder Dresden umgesehen. Als die Baufirma unser Haus zur Besichtigung öffnete, kamen einige junge Familien, die sich den Traum auch hier erfüllen möchten, aber eben kein Bauland finden. Aber gerade ein eigenes Haus bindet Leute auch für längere Zeit. Ronald Geisler

Da fahrt mal nach Arendsee und Umgebung. Da ist wirklich tote Hose und nix los. Aber in Görlitz hat sich viel geändert. Die Kitas sind voll, also gibt es doch nicht nur alte Leute. Und denkt dran, auch wir werden mal alt. Claudia Riedel

Grauenhafte Überschrift. Der Inhalt des Artikels ist auch nicht viel besser und spiegelt teilweise nicht die Realität wider. Es gibt sicherlich genug Kritikpunkte, auch was die Wirtschafts- und Steuerpolitik angeht, aber menschenleer ist Görlitz sicherlich nicht, und Zuwachs ist auch da. Bernhard Quirbach

Ich kann den reflexhaften Görlitzer Aufschrei nicht nachvollziehen. Natürlich ist der Artikel zugespitzt, trifft aber in einigen Punkten sehr genau die Realität. Gegen die wir uns halt kraftvoll stemmen müssen. Ich hielte es für souverän, solche Meinung gelassen zu ertragen. Axel Krüger

Ich bin der Überzeugung, dass in Görlitz ganz viel passiert, aber wer’s nicht sehen will, dem wird auch nichts recht gemacht werden. Also einfach ignorieren. Im Westen sind die Städte meist noch lange nicht so weit saniert. Daniela Symm

Der Autor des Artikels könnte glatt aus Görlitz kommen. Görlitzer sehen sich und ihr Leben ja auch gern dunkelschwarz und schön negativ. In diesem Sinne passt doch der Artikel ganz gut. Clemens Habedank

Ein paar Argumente gegen den Spiegel-Beitrag: Wir haben nicht nur zwei Großbetriebe. Wir haben international bekannte und anerkannte klein- bis mittelgroße Firmen in Görlitz, die auch immer Leute brauchen (Partec, Birkenstock, sogar eine Verpackungsfirma in der Straßburg-Passage) sowie Unternehmen, die international verkaufen. Dank des Onlineverkaufs können sie angenehme Arbeitsverhältnisse anbieten. Welche Stadt von 55 000 Einwohnern bietet zwei Theater, drei Kinos, ein Schwimmbad, fast alle Sportarten, eine große Menge an aktiven Vereinen in fast allen Bereichen der Kunst und Kultur an? Und da rede ich noch nicht von den Angeboten in Zgorzelec oder in den nahen Mittelgebirgen, an den Seen. Die, die meckern, sollten die Stadt und die Gegend richtig kennenlernen, sich engagieren, die Sachen bewegen. Engagierte und Kreative, Leute mit Lust auf Arbeiten, fühlt euch in Görlitz herzlich willkommen! Laure Marsu

Hier geht es zum Beitrag im „Spiegel“