Merken

„In Riesa ging’s bergauf“

Eine 45-Jährige leidet an Schizophrenie. An der Goethestraße hat sie einen Ort gefunden, an dem ihr geholfen wird.

Teilen
Folgen
© Sebastian Schultz

Von Stefan Lehmann

Riesa. Vor fünf Jahren konnte Simone Müller einfach nicht mehr. Schon seit längerer Zeit habe sie unter Schlafstörungen gelitten. Dann folgte die Nacht, in der sie überhaupt nicht mehr einschlafen konnte. Was sie wach hielt, darüber redet die gebürtige Großenhainerin nicht. Aber ihre Probleme belasten sie an diesem Tag so sehr, dass sie sich selbst in die Psychiatrie einweist. „Ich wollte, dass mir jemand hilft“, erzählt sie heute und lächelt schüchtern. Schon 2003 hatten Ärzte bei ihr eine paranoide Schizophrenie sowie eine leichte geistige Behinderung diagnostiziert. Nachdem sie sich einweisen lässt, empfiehlt ihr die Betreuerin, sich für ein WG-Projekt in Riesa anzumelden.

„Als Frau Müller zu uns kam, war sie in einem eher labilen Zustand“, sagt Manja Szceczinski. Sie gehört zum Betreuerteam in der sozialtherapeutischen Außenwohngruppe des Psychosozialen Trägervereins Sachsen (PTV). In dem Haus in der Goethestraße werden psychisch Erkrankte auf ihren Neustart vorbereitet. Seit 2013 lebt auch Simone Müller dort – weil es alleine nicht mehr ging, wie sie selbst sagt. „Ich konnte nicht mehr allein zu Hause leben“, sagt die 45-Jährige. „Die Ordnung war nicht so perfekt.“

Bis zu neun Menschen können in der Wohngruppe betreut werden, leben dort ähnlich wie in einer Wohngemeinschaft zusammen. Nach Riesa werden sie meist über die Kliniken oder Ärzte vermittelt, einige melden sich auch selbst beim PTV. Die drei Mitarbeiter helfen den Bewohnern dabei, ihren Tagesplan zu strukturieren. „Wir sind nicht immer vor Ort, aber erreichbar“, sagt Manja Szceczinski. Von den Putzplänen abgesehen, gebe es keine festen vorgegebenen Abläufe. Jeder Bewohner habe sein eigenes Zimmer mit einem ambulanten Betreuer. Ziel der Wohngruppe sei es, dass die Bewohner perspektivisch wieder allein wohnen können.

Nachdem Simone Müller ihre neuen vier Wände in Riesa bezogen hatte, „ging’s bergauf“, sagt sie und lächelt. Den Haushalt jedenfalls schmeißt sie heute selbst. In ihrem Zimmer hängt bereits die selbst gebastelte Osterdekoration, auf den Tischen stehen Fotos ihrer drei Kinder. „Die sind mittlerweile erwachsen“, erzählt Müller. „Einmal im Monat treffen wir uns.“ Erst vor Kurzem sei sie Großmutter geworden, sagt sie stolz.

Tabu-Thema Psychische Erkrankung

Wer an psychischen Erkrankungen leidet, der werde oft schief angeschaut, sagt Teamleiterin Manja Szceczinski. „Lange Zeit war das ein Tabu-Thema, dabei muss es das gar nicht sein.“ Mittlerweile erkenne sie aber, dass psychische Erkrankungen nicht mehr totgeschwiegen werden, Stigmatisierung und Vorurteile weniger werden. Auch Simone Müller hatte lange Zeit Angst, sich anderen Menschen zu öffnen. In Großenhain habe sie sich einsam gefühlt. „Ich hatte Angst, dass die Leute schlecht über mich reden.“ In Riesa sei das anders. Hier hat sie Anschluss gefunden, nicht nur wegen der Betreuung in der Außenwohngruppe. Nach der Arbeit bei der Lebenshilfe geht sie selbstständig in der Elbgalerie einkaufen, die Freizeit verbringt sie oft in der Kirche. Außerdem reist sie viel. „Das Letzte war eine organisierte Busreise nach Holland“, sagt Müller. In Amsterdam sei sie unterwegs gewesen, „per Fuß und Schiff“. Am besten habe ihr allerdings nicht die Stadt gefallen, sondern das Meer. „Ich war vorher noch nie an der Nordsee.“

„Frau Müller war bereit für die Zusammenarbeit und wollte schnell wieder auf die Beine kommen“, erinnert sich Manja Szceczinski. Außerdem gehe sie auch von sich aus auf Menschen zu. Insofern sei sie sozusagen eine Vorzeige-Klientin. Weil es so gut läuft, könnte Simone Müller möglicherweise bald in die eigenen vier Wände ziehen. Ein Gutachter hat dafür schon grünes Licht gegeben. „Ich habe schon geschaut, am Puschkinplatz wäre was frei“, verrät die 45-Jährige und strahlt. Zu weit weg aus der gewohnten Umgebung wolle sie dann doch nicht. Völlig auf sich gestellt wird sie auch dann nicht sein. Wenn sie wolle, dann könne sie nach ihrem Auszug auch weiter ambulant betreut werden, heißt es vonseiten des PTV.