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In letzter Sekunde

Eine Bautzenerin kann gerade noch verhindern, dass eine Frau in den Tod springt. Dennoch macht der Fall betroffen.

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© Uwe Soeder

Jana Ulbrich

Bautzen. Es ist Donnerstagmittag, kurz nach eins. Constanze Müller hat es eilig. Die Krankenschwester muss zum Dienst. Sie geht zu Fuß. Ihr Weg zur Arbeit führt über die Bautzener Friedensbrücke. An diesem Donnerstag sieht Constanze Müller, wie sich jemand über das Brückengeländer beugt. Sie denkt sich nichts weiter dabei. Aber als sie näherkommt, wird ihr plötzlich bewusst: Das junge Mädchen will doch nicht etwa springen? Mit einem Bein ist sie ja auch schon über das Geländer gestiegen!

Die letzten Meter rennt Constanze Müller. In letzter Sekunde kann sie die junge Frau festhalten und zurück auf die Brücke ziehen. Die Krankenschwester ist geschockt. Was dann aber passiert, sagt sie später, das hat sie noch mehr schockiert:

Passanten reagieren nicht

Das junge Mädchen schreit und schlägt wie von Sinnen auf die Bautzenerin ein. Constanze Müller bittet einen älteren Herrn um Hilfe, der gerade vorbeikommt. Während der Mann die junge Frau festhält, versucht die 46-Jährige, weitere Vorbeikommende um Hilfe zu bitten. Die Friedensbrücke ist wie immer sehr belebt an diesem Mittag. Aber weder die Passanten auf der anderen Straßenseite noch Autofahrer reagieren. „Ich habe laut um Hilfe gerufen, ich stand sogar auf der Straße, die Leute müssen uns doch gehört und gesehen haben“, sagt sie und fügt dann leise hinzu: „Einige haben sogar einen Bogen um mich gemacht.“ Zwei Neuntklässler der Bautzener Gottlieb-Daimler-Oberschule sind es schließlich, die den Ernst der Lage erkennen und sofort den Notruf wählen.

Später werden Polizeikräfte die junge Frau in Gewahrsam nehmen und ins Krankenhaus bringen. Constanze Müller bleibt mit einem Gefühl großer Leere auf der Brücke zurück. Sie ist sehr betroffen. Es sind nur wenige Minuten gewesen an diesem Donnerstag auf der Friedensbrücke: „Zum Glück lange genug, um zu verhindern, dass ein junger Mensch sich das Leben nimmt“, sagt Constanze Müller. „Aber auch lange genug, um zu erleben, wie achtlos und desinteressiert viele Menschen doch sind.“

Vor allem Männer betroffen

55 Menschen haben sich 2014 im Landkreis Bautzen das Leben genommen, 44 Männer, elf Frauen, darunter auch zwei Jugendliche. Eine aktuellere Statistik gibt es nicht. Es gibt auch keine Statistik darüber, wie viele Suizid-Versuche von anderen Menschen rechtzeitig verhindert werden konnten. Und ebenso weiß niemand, wie vielen Menschen das große Schild an der Friedensbrücke bereits geholfen hat, in letzter Minute doch nicht in den Tod zu springen: „Aus Worten können Wege werden“ steht in großen Buchstaben darauf, darunter die kostenlose Rufnummer der Telefonseelsorge Oberlausitz. Die Stadt Bautzen hatte die Tafel schon vor Jahren anbringen lassen, weil es immer wieder vorkommt, dass Menschen gerade diesen Ort wählen, um sich mit einem Sprung in die Tiefe das Leben zu nehmen.

Das Transparent an der Bautzener Friedensbrücke ist im ganzen Landkreis die einzige großflächige Werbung für einen Anruf bei der Telefonseelsorge. Anscheinend hat es auch schon manches Mal seinen Zweck erfüllt. „Wir hatten tatsächlich schon Anrufer, die gesagt haben: Ich stehe gerade auf der Brücke...“, erzählt Nicole Hackel vom Diakonischen Werk Bautzen, das die Telefonseelsorge in seiner Trägerschaft hat. „Solche Anrufe“, sagt sie, „sind auch bei unseren Mitarbeitern am Telefon immer mit viel Herzklopfen verbunden.“ Die Seelsorge-Telefone sind Tag und Nacht besetzt. Die rund 90 Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich. Mehr als 11 000 Gespräche haben sie im vorigen Jahr geführt, haben zugehört, dem Anrufer ihre Aufmerksamkeit geschenkt, Mut gemacht. Auch Lebensmut. In 199 Fällen ging es direkt darum, einen Selbstmord zu verhindern. Das sind sehr besondere Umstände auch für die Seelsorger. „Wir versuchen dann zuerst immer, den Anrufer mit gezielten Fragen aufzuhalten und ins Gespräch zu ziehen“, erklärt Nicole Hackel. „Warum denn gerade heute? Oder: Wo genau sind Sie denn gerade?“ Die Mitarbeiter fragen auch, ob sie jemanden vorbeischicken sollen.

Seelsorger erfahren nicht, was passiert

Sie wissen nie, ob es ihnen gelungen ist, einen am Leben Verzweifelten tatsächlich von seinem Vorhaben abgehalten zu haben. Wenn der Anrufer aufgelegt hat, ist der Kontakt beendet. Die Seelsorger erfahren nicht, was nach dem Anruf passiert. „Obwohl wir alle für diese besondere Arbeit gut ausgebildet und geschult sind, ist das auch für uns oft eine schwer zu verarbeitende Situation“, sagt Nicole Hackel.

Auch Constanze Müller ist vom Erlebnis auf der Friedensbrücke, das jetzt drei Wochen zurückliegt, noch immer sehr betroffen. „Aber es ist gut zu wissen“, sagt sie, „dass ich gerade in diesem Moment da war und helfen konnte“. Sie hofft sehr, dass es dem jungen Mädchen wieder besser geht, dass es jetzt vor allem auch wieder den Mut zum Leben findet und die Hilfe, die es möglicherweise braucht.