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In Görlitz wächst eine Berliner Kirche

Frank-Ernest Nitzsche hat einst den Schönhof gerettet und will nun in der Hauptstadt ein Zeichen setzen.

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© nikolaischmidt.de

Von Frank Seibel

Der Sozialismus hat gesiegt. Mit dem 17 Stockwerke hohen weißen Betonklotz kann die kleine Kirche nicht mithalten. Selbst mit dem Turm, der bis vor 60 Jahren emporragte, wäre das Gotteshaus chancenlos. Politisch hat der Sozialismus zwar letztlich doch verloren, aber städtebaulich nicht. Zwischen dem Hochhaus und einer viel befahrenen Straßenkreuzung verkommt die Kirche fast zur Randnotiz.

David gegen Goliath: eine echte Herausforderung. 242 Kilometer südöstlich von der Taborkirche in Berlin-Lichtenberg sitzt Frank-Ernest Nitzsche und hat diesen Kampf aufgenommen. Auf der Seite des Davids, der nach biblischer Überlieferung den bösen Riesen Goliath mit einem Steinwurf besiegte. In seiner Wohnung in der Konsulstraße hat er große Fotos von der fast 800 Jahre alten Kirche ausgebreitet. Sie zeigen Wandlungen der vergangenen Jahre. Auf den älteren ist eine imposante Giebelwand noch mit Putz verkleidet, ein „Bullauge“ darunter zugekleistert und nahezu unsichtbar. Im Laufe der Jahre, scheint es, wurde das Kirchlein in feindseliger Umgebung immer unscheinbarer.

Frank-Ernest Nitzsche will das ändern. Seit zweieinhalb Jahren beschäftigt sich der Architekt und Bauforscher intensiv mit der Kirche, die gar nicht so weit von seinem Heimatbezirk Pankow entfernt liegt. Dass er aus dem David keinen Goliath machen kann, ist klar. Aber er hat sich vorgenommen, die Geschichte dieses Ortes wieder stärker herauszuarbeiten. Als Kleinod soll sich die Taborkirche gegen das langweilige Hochhaus durchsetzen.

Beinahe 800 Jahre zurück reicht diese Geschichte. Da gab es Berlin noch gar nicht. Nur ein paar verstreute Dörfer in der Mark Brandenburg, hie und da ein Kloster. Jüterbog, die Stadt Brandenburg – das waren die nächsten größeren Städte mit einem Markt. Einige Siedler hatten sich hier niedergelassen und das Dorf Hohenschönhausen gegründet. Sie selbst lebten in Holzhäuser oder Lehmhütten, sagt Frank-Ernest Nitzsche. Aber sie haben alle Kraft eingesetzt, um sich ein würdiges kulturelles Zentrum zu schaffen. „Ich bewundere diese Leistung.“

Die erste Generation kam ab 1230 noch mit einer hölzernen Kirche aus. Die zweite baute sich die beachtliche Steinkirche mit gotischen Spitzbogen über dem Kirchenschiff. Wie die Menschen damals ohne moderne Hilfsmittel ein so erhabenes Haus mit statischen und ästhetischen Finessen wie einem Kreuzgewölbe bauen konnten, das nötigt Frank Ernest Nitzsche immer wieder Respekt ab. „Damals war das Dorf umgeben von Sumpf, Wiesen und Wald. Sonst nichts.“

Mitte des 13. Jahrhunderts, das war die Zeit, in der in Görlitz die Urform der Peterskirche gebaut wurde, damals in spätromanischem Stil. Nitzsche stammt aus einem Künstler-Haushalt. Sein Vater war Grafiker, seine Mutter Bildhauerin. Er selbst hat zunächst den Beruf eines Gemälderestaurators erlernt. Kunstgeschichte ist gleichsam seine Heimat, sagt er. Wenn er heute einen historischen Ort betritt, „dann scanne ich ganz unbewusst den Raum ab“. Er erkennt Spuren längst verschwundener Weihwasserbecken, sieht im zugebauten „Bullauge“ und den zwei schmalen, hohen Fenstern daneben sofort die „Dreieinigkeit“, die in der christlichen Symbolsprache so elementar ist: Vater, Sohn und Heiliger Geist stehen für den „dreieinigen Gott“. Seinen Auftrag in Berlin hat Nitzsche als Architekt erhalten. Aber vor der ersten Zeichnung liegen Monate der Recherche und des Nachdenkens. „Wenn ich nicht weiß, was ich vor mir habe, was soll ich da machen?“

Die Grundlagen christlicher Kultur und christlichen Glaubens hat Nitzsche verinnerlicht, ohne dass er sich selbst noch als gläubigen Menschen bezeichnen würde. Aber er wurde getauft und konfirmiert, und richtig losgelassen hat ihn diese Geisteswelt nie. Wie auch? Architektur und Kunst wurden in Europa eineinhalb Jahrtausende von der Kirche geprägt, sagt er. Klöster und Kirchen waren kulturelle Zentren, hier war das Wissen zuhause, nicht nur über Gott, sondern auch über die Welt. Wie regelt man das Zusammenleben vieler Menschen nicht nur nach Moral, sondern auch nach verbindlichem Recht, wie bewirtschaftet man große Flächen, baut Straßen, legt Marktplätze an? Das alles wurde in den Klöstern nicht erfunden – aber gefunden. Das überlieferte Wissen der Antike war in den Schreibstuben und Lesesälen der Klöster gespeichert.

Das alles ahnte er schon, als er 1982 erstmals nach Görlitz kam. „Ich sah die Altstadt und kam aus dem Staunen nicht heraus: Was ist denn hier los?“ Schon bei einem seiner ersten Rundgänge betrat er auch den Schönhof, der als ältestes weltliches Gebäude der Renaissance gilt. Aber was heißt weltlich? Im Mittelalter und der frühen Neuzeit waren alle Sphären des Lebens sehr von den kulturellen und ästhetischen Normen der Kirche geprägt. Was eine reiche Kaufmannsfamilie von einem genialen Baumeister, Wendel Roskopf, hier bauen ließ, war ohne die Erfahrungen des Kirchbaus nicht denkbar, sagt Nietzsche. Aber es sollte noch beinahe 25 Jahre dauern, bis er sich intensiv mit Kirchen und Klöstern als Kulturzentren befassen sollte.

2006 erhielt er mit seinem Büro den Auftrag, das Kloster Altzella bei Nossen zu sanieren. Eine alte Zisterzienser-Abtei, die für ihn das Tor zu einer ganz eigenen Welt wurde. „Heute bin ich regelrechter Zisterzienser-Fan“, sagt Nitzsche. Das hat nichts mit Frömmigkeit zu tun, aber mit einem tiefen Respekt vor einem Wertesystem, das er als Basis der humanistischen Werte in der westlichen Welt sieht. „Die Kirche ist ein Ankerpunkt für das gesellschaftliche Gewissen. Das nimmt einen immer größeren Raum ein in meinem Bewusstsein.“ Das sagt er auch im Zusammenhang mit den aktuellen politischen Entwicklungen und der Flüchtlingskrise in Europa. Er selbst hat in seinem Haus eine syrische Familie aufgenommen und Freundschaften geschlossen. Grundprinzipien von Menschenwürde und Barmherzigkeit: Sie sieht der Bauforscher und Architekt in den Kirchen verankert. Auch in einem kleinen, scheinbar unbedeuteten Gotteshaus in Hohenschönhausen.

Dort, wo zunächst der Krieg und später sozialistische Bau-Ideologie die Geschichte des alten Dorfes Hohenschönhausen beinahe unsichtbar gemacht haben, will er das Kirchlein wieder zu dem machen, was es einmal war: ein Statement, ein Bekenntnis. Dass sie sich neben dem öden Hochhaus nicht wegducken will, hat die Kirchengemeinde schon beschlossen. Ein neuer Turm soll her. Das ist der zweite, sichtbarere Teil der Arbeit von Frank-Ernest Nitzsche. Er hat einen viereckigen Turm aus Waschbeton entworfen, der die Formen und Materialien der Umgebung aufnimmt – aber der Turm erhält eine Haube aus Kupferblech. An jeder Seite wird ein spitzes, hohes Fenster zum einen ein altes, gotisches Grundmuster aufnehmen, das zugleich an das Symbol der Ur-Christen, einen Fisch, erinnert. Noch ist das Geld nicht da, aber Architekt und Gemeindekirchenrat sind sich einig. „Man kann inhaltlich ein Zeichen setzen. Dann spielt die Größe keine Rolle mehr.“