Von Nora Miethke
Die Kassandrarufe erwiesen sich als falsch. Als die Europäische Union 2004 um acht Länder aus Mitteleuropa erweitert wurde, befürchteten viele Deutsche eine Invasion von Billiglöhnern, vor allem aus Polen. Deshalb wurde die Freizügigkeit für Arbeitnehmer sieben Jahre lang beschränkt. Aber auch als 2011 die letzten Fesseln fielen, blieb der große Ansturm in Sachsen aus.
Das sagen Grenzgänger
Nach der Statistik der Bundesagentur für Arbeit sind im vergangenen Jahr – Stichtag 30. Juni – 1 677 Menschen aus Polen und 1 373 Menschen aus Tschechien nach Sachsen zum Arbeiten gependelt. Insgesamt arbeiten derzeit im Freistaat 5 308 Frauen und Männer aus Polen sowie 2 463 aus Tschechien. Das ist ein Anteil von 0,5 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Sachsen.
Auch wenn die Zahl der Pendler steigt, zeigt die Statistik: Für unsere Nachbarn auf Jobsuche besitzt Sachsen keine große Anziehungskraft. Nur rund zehn Prozent der Polen, die nach Deutschland zum Arbeiten fahren, bleiben in Sachsen. Die übrigen 15 801 von insgesamt 17 478 Pendlern fahren nur durch nach Nordrhein-Westfalen oder in andere Bundesländer. Die meisten der polnischen Pendler zieht es noch weiter weg nach Großbritannien oder Irland. Ähnlich ist die Situation bei den Tschechen. Von den 10 497, die in Deutschland arbeiten, pendeln nur 1 373 nach Sachsen – ein Anteil von 13,1 Prozent.
Die Aufregung war also umsonst. Inzwischen hat sich die Stimmung umgekehrt. Nicht nur Einkaufstouristen aus den Nachbarländern sind in den Shopping-Centern in Dresden, Bautzen oder Chemnitz willkommen. Mancher sächsische Chef würde sie gern auch als Mitarbeiter begrüßen.
Sachsen ist im Dreiländereck am stärksten vom demografischen Wandel betroffen. Das prognostizierte Schrumpfen der Bevölkerung bis 2025 liegt bei 13 Prozent. Für Polen werden rund elf Prozent vorhergesagt. Am günstigsten ist die Situation in Tschechien dank Geburtenüberschüssen in einzelnen Bezirken. Künftig werden im Freistaat weniger Jugendliche ins Berufsleben einsteigen, als Ältere aus diesem aussteigen. „Die Zahl der erwerbsfähigen Bevölkerung wird sich nach der aktuellen Prognose bis 2025 um über 470 000 Menschen verringern“, sagt Klaus Schuberth, Chef der Landesarbeitsagentur Sachsen. Fachkräftesicherung gewinne daher zunehmend an Bedeutung. „Für Sachsen sind die Pendler aus Tschechien und Polen ein wichtiges Potenzial“, stellt Schuberth fest.
Seine Behörde hat deshalb beim Leibniz-Institut für Länderkunde eine Studie in Auftrag gegeben, um herauszufinden, welche Faktoren die Arbeitskräftemobilität in der sogenannten Eures-Tri-Regio beeinflussen. Diese umfasst in Sachsen die Regionen um Dresden und Chemnitz, in Polen die Regionen Hirschberg und Waldenburg und in Tschechien die Regionen Karlsbad, Aussig und Reichenberg. Das Eures-Netzwerk aus Arbeitsverwaltungen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden wurde 1993 gegründet, um einen grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt zu fördern. Ziel in Sachsen ist die Fachkräftesicherung. Dazu soll erreicht werden, dass mobile Arbeitnehmer im Dreiländereck arbeiten und nicht in benachbarte Regionen abwandern.
Das Ergebnis der noch unveröffentlichten Studie, die der SZ vorliegt: Die Mobilität im Dreiländereck hält sich sehr in Grenzen. Im Jahr 2011 wohnten im sächsischen Teil der Eures-Tri-Regio 2 629 Tschechen und 5 262 Polen. Das entsprach einem Anteil von 13 Prozent aller Ausländer. Im tschechischen Teil lebten 5 796 Deutsche und 2 434 Polen und im polnischen Gebiet 340 Deutsche und 34 Tschechen. 2012 pendelten 1 900 Arbeitnehmer aus Polen und Tschechien in den sächsischen Teil der Eures-Tri-Regio. Im Vergleich zu anderen Grenzräumen in Westeuropa sei das ein geringes Niveau, urteilten die Autoren der Studie. Vor allem Sprachbarrieren erschweren es, sich im Nachbarland eine Arbeit zu suchen. Während in Sachsen das Angebot an Polnisch- und Tschechischkursen wächst, nimmt in den Nachbarländern das Interesse an Deutsch als Fremdsprache ab. Und mit dem Schulenglisch kann man sich in den kleinen und mittelständischen Betrieben nur eingeschränkt verständigen. Eine weitere Hürde ist die hierzulande praktizierte duale Ausbildung, die sonst nur in Österreich und der Schweiz vergleichbar geregelt ist. Das erschwert die Anerkennung von Abschlüssen. Das Leibniz-Institut empfiehlt daher, die Ausbildungsinhalte in der Grenzregion besser abzustimmen, die Zusammenarbeit der Berufsschulen auszubauen und grenzübergreifende Praktika anzubieten.
Auch bei der Finanzierung von Sprachkursen sind Pendler wie Firmen nicht allein auf sich gestellt. „Die weitere Verbesserung der Rahmenbedingungen in den grenznahen Regionen müssen alle Arbeitsmarktpartner gemeinsam mit den ausländischen Institutionen vorantreiben“, appelliert Schuberth. Denn Sachsen braucht noch mehr Grenzpendler.