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Immer erreichbar für die Patienten

Seit 35 Jahren ist Gloria Ringel Landärztin in Hinterhermsdorf. Das brachte ihr eine besondere Art von Reichtum.

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© Dirk Zschiedrich

Von Franz Werfel

Sächsische Schweiz. Hinter dem Kirnitzschtal liegt ganz ruhig der kleine Ort Hinterhermsdorf. Seine gut 600 Einwohner leben eingebettet in malerischer Natur – und ein bisschen verlassen. Einen Tante-Emma-Laden hat das Dorf noch. Der Bäcker hat vor einem Jahr dichtgemacht, einen Fleischer gibt es hier nicht mehr.

Den eisernen Asklepios-Stab an der Hauswand ihrer Praxis in Hinterhermsdorf hat ihr einst ihr Mann geschenkt.
Den eisernen Asklepios-Stab an der Hauswand ihrer Praxis in Hinterhermsdorf hat ihr einst ihr Mann geschenkt. © Dirk Zschiedrich
In ihrer Praxis hat Gloria Ringel auch ein kleines Operationszimmer. In ihrem Ampullen-Koffer hat sie bei Hausbesuchen die wichtigsten Spritzen stets dabei.
In ihrer Praxis hat Gloria Ringel auch ein kleines Operationszimmer. In ihrem Ampullen-Koffer hat sie bei Hausbesuchen die wichtigsten Spritzen stets dabei. © Dirk Zschiedrich
In ihrer Praxis hat Gloria Ringel auch ein kleines Operationszimmer. In ihrem Ampullen-Koffer hat sie bei Hausbesuchen die wichtigsten Spritzen stets dabei.
In ihrer Praxis hat Gloria Ringel auch ein kleines Operationszimmer. In ihrem Ampullen-Koffer hat sie bei Hausbesuchen die wichtigsten Spritzen stets dabei. © Dirk Zschiedrich

Über Kopfsteinpflaster holpert das Auto durch die Ortsmitte, die Straße steigt steil an, der Weifbergturm grüßt vom Waldesrand. Weifbergstraße 11 – das ist die Adresse des Dorfarztes, seit 50 Jahren. 1968 eröffnete Frau Doktor Rau hier ihre Praxis.

Seit 1983 führt Gloria Ringel in dem Haus das Regiment. Erst arbeitete sie als Angestellte des Ortes in der staatlichen Praxis, seit der Wende als niedergelassene Ärztin. Schon als kleines Mädchen wusste die heute 65-Jährige, dass sie Ärztin werden will. Vorbilder in ihrer Familie gab es dafür nicht. Medizin hat sie von Beginn an fasziniert. „Ich war seit der vierten Klasse bei den jungen Sanitätern“, sagt Gloria Ringel.

Das Physikum, Halbzeit des Medizinstudiums, legt sie an der Berliner Humboldt-Uni ab. An der Medizinischen Akademie in Dresden beendet sie ihr Studium. Dann geht es zum Facharzt an die Sebnitzer Klinik. Dort lässt sie sich zur Allgemeinmedizinerin und beim ambulanten Dienst ausbilden. Psychiatrie und Psychologie lernt sie in Neustadt. Schon in dieser Zeit ist sie für die Außenstelle der Sebnitzer Stadtambulanz zuständig. Lohsdorf, Ulbersdorf, Schönbach heißen ihre Dörfer. „Ich bin dort hingefahren, wo sonst niemand war.“ Diese Einstellung behält Gloria Ringel ihr ganzes Berufsleben. Seit 1983 arbeitet sie in der staatlichen Arztpraxis Hinterhermsdorf. Bis heute ist sie auch für die Menschen in Saupsdorf und Ottendorf da.

Jeden halben Tag wechselt Gloria Ringel den Ort. Und auch außerhalb der Sprechzeiten ist sie für ihre Patienten ansprechbar. Egal, ob ein Schulkind anruft, in das sich eine Zecke verbissen hat, oder ein humpelnder Senior. Ein einziges Mal in all den Jahren wurde sie zu einer Geburt gerufen. „Das war im Winter bei minus 25 Grad, frühmorgens um 4.30 Uhr.“ Als die Ärztin im Haus der Mutter ankommt, ist das Baby schon da. „Ich musste nur noch beim Abnabeln helfen“, sagt Gloria Ringel.

Sonst hielten sich die Notfälle in Grenzen. Bei Asthmaanfällen und schweren Herzinfarkten wurde sie geholt. „Die Leute rufen bis heute nicht gleich den Notarzt an, sondern erst mal mich.“ Einmal konnte sie nicht mehr helfen, da war ihr Patient gestorben. Obwohl sie, wie sie sagt, eigentlich ganz gut mit dem Tod umgehen kann, hat sie damals ein paar Tage gebraucht. „Das schüttel’ ich nicht einfach ab.“

Wenn ihre Patienten schwer erkranken, zum Beispiel an Krebs, versucht sie, die Familien möglichst lange zu begleiten. „Es gibt Familien, die halten gut zusammen, bei anderen gibt es schon am Totenbett Streit.“ Sie versucht immer, die positiven Beispiele in die Familien zu tragen, zu zeigen, dass es auch anders gehen kann. Obwohl sie selbst nicht christlich ist, hat sie sich immer um ein gutes Verhältnis zum Ortspfarrer bemüht. Bei gläubigen Patienten mitzugehen, habe vielen geholfen.

Eine besondere Herausforderung war für sie, wie für viele andere, die Zeit der Wende. Im Herbst 1990 eröffnete ihr der damalige Bürgermeister: Frau Ringel, Sie können sich jetzt als Ärztin niederlassen. Die Gemeinde wird Sie nicht mehr bezahlen. „Ich hatte nicht viel Zeit, über diesen Schritt nachzudenken“, sagt Gloria Ringel. Patientenzettel, die ganzen Abrechnungen – das war alles Neuland für sie. Auf den ersten Blick veränderte sich nicht viel. Die Praxis blieb am gleichen Ort, auch ihre Mitarbeiterin, Schwester Ursula, behielt sie. „Auf einmal musste ich ein richtiges Unternehmen führen und in drei Orten Miete zahlen.“ Im ersten Quartal 1991 arbeitete sie ins Blaue hinein, ohne zu wissen, wohin das führt. „Wir Ärzte rechnen ja immer vierteljährlich mit den Krankenkassen ab.“

Direkt nach der Wende behandelt sie 1 000 Patienten in jedem Quartal. Heute hat sie insgesamt so viele. „Überlastet bin ich nicht, die Bevölkerungszahl ist gesunken.“ Nie habe ihr jemand in die Arbeit hereingeredet. „Mir kommt keiner zu nahe, ringsherum ist nur Tschechien.“ Ihre vielen Hausbesuche macht sie immer noch. Wenn Patienten in ein Altenheim umziehen, versucht sie, weiter für sie da zu sein. Alle sechs Wochen geht sie ins Heim. Sie kennt ihre Geschichten, hat sie viele Jahre begleitet. Deswegen hat sie auch die beiden Dörfer Saupsdorf und Ottendorf nie aufgegeben. „Bis in die Praxis schaffen es die alten Leutchen immer irgendwie.“ Schwierig werde es aber, wenn sie den Bus nehmen müssen.

Eine Ärztin mit 40 Jahren Berufserfahrung muss man unbedingt fragen: Haben sich die Patienten in dieser Zeit verändert? „Psychische Krankheiten, Depressionen kamen auf dem Dorf schon immer weniger vor als in der Stadt. Ich habe aber den Eindruck, das hat sich in letzter Zeit gehäuft, vor allem bei jungen Leuten.“ Außerdem gebe es heute mehr Diabetes und mehr Stoffwechselerkrankungen. Das liege zum einen an der besseren Diagnostik. „Vielleicht sind die Leute heute nicht mehr so widerstandsfähig“, sagt Gloria Ringel.

Als reich an Erfahrungen würde sie sich bezeichnen. Reich geworden, wie mancher andere Arzt, ist sie nicht. Das war ihr auch nie wichtig, sagt sie. „Ich konnte immer in dem Beruf arbeiten, den ich liebte. Und ich konnte ihn so machen, wie ich mir das vorgestellt habe.“ In ruhiger Umgebung, mit viel Zeit für ihre Patienten und Zeit zum Zuhören. Gloria Ringel hat beobachtet, dass Patienten erst dann frei über ihr Innenleben sprechen, wenn sie spüren, dass der Arzt Zeit für sie hat. „Ärzte, die 50 bis 80 Menschen am Tag behandeln müssen, können das gar nicht leisten.“ Die Patienten haben es ihr immer gedankt.

Im nächsten Sommer ist Schluss. „Ich werde auch älter und will aufhören, bevor ich Fehler mache.“ Bis Ende Juni will sie noch praktizieren. Ein Nachfolger ist bisher nicht in Sicht.