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Im Zweifel für den Polygrafen

Ein Lügendetektor half einem Angeklagten in Bautzen, seine Unschuld zu beweisen. Richter Dirk Hertle schwört auf das Gerät.

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© Uwe Soeder

Von Franziska Klemenz

Bautzen. Vor Gericht sind Spuren das Alphabet. Blut, Waffen, Splitter. Alles lässt sich lesen. Im Idealfall gibt es Augenzeugen. Juristen setzen die Beweismittel zusammen, fertig ist das Mosaik der Wahrheit. Was aber, wenn es weder Spuren noch Augenzeugen gibt? Wenn die Aussagen des Angeklagten und des anklagenden Opfers, der einzigen Anwesenden am Tatort, sich widersprechen? Ein Rätsel, das Richter Dirk Hertle vor dem Bautzener Amtsgericht mit einem Zeugen löste, der noch nie am Tatort war: einem Polygrafen, auch Lügendetektor genannt. „Ich schwöre darauf“, sagt Hertle der SZ vor Verhandlungsbeginn am Donnerstag.

Im Missbrauchsprozess wurde dieses Gerät, ein Polygraf, zum Protagonisten. Es misst bei der Befragung eines Angeklagten dessen körperliche Reaktionen.
Im Missbrauchsprozess wurde dieses Gerät, ein Polygraf, zum Protagonisten. Es misst bei der Befragung eines Angeklagten dessen körperliche Reaktionen. © Jens Kaczmarek

Am 17. Oktober hatte der Prozess begonnen, es geht um Missbrauch. Eine damals Neunjährige beschuldigt den Bruder ihres Stiefvaters, sie angefasst zu haben. Monate später erzählt sie ihrer Mutter davon. Die wiederum hatte eine SMS-Affäre mit dem Angeklagten. Noch komplizierter wird es vor Gericht. Familienbeziehungen und widersprüchliche Aussagen verheddern sich zu einem undurchsichtigen Knäuel. Nur einer verstrickt sich nicht darin: der Angeklagte. Er war es nicht, sagt Jens M. Aber genügt Glaubwürdigkeit als Beweis? „Um einen Unschuldigen zu entlasten, ist die Untersuchung mit Polygrafen in Sorge- und Unterhaltsverfahren ein zulässiges Mittel“, zitierte der Richter einen Beschluss des Dresdner Oberlandesgerichts nach dem ersten Verhandlungstag.

Der silberne Koffer

Zu dem Zeitpunkt kannte er längst das Gutachten der Polygrafen-Expertin Gisela Klein. Er hatte sie beauftragt, den Angeklagten zu befragen. Zwischen den Bänken im Verhandlungssaal thront nun ihr silberner Koffer. Wären da nicht die Rolle Millimeterpapier und die Zeppelin-förmige Pumpe, man könnte ihn für das Mischpult eines Musikers halten. Anhand von Parametern wie Blutdruck oder Schweißabgabe misst der Kasten mit den vielen Knöpfen den körperlichen Zustand des Befragten, zeichnet seine Erkenntnisse in zackenförmigen Wellen auf das Blatt Papier.

Was es mit dem Lügendetektor auf sich hat

Polygraf, besser bekannt als Lügendetektor, bedeutet Vielschreiber. Diese Bezeichnung rührt daher, dass das Gerät während der Befragung eines Angeklagten unterschiedliche Werte gleichzeitig in Linien auf Papier zeichnet – beispielsweise den Blutdruck oder die Atemfrequenz.

Hinter den Tests steht die Theorie, dass ein Mensch sich erregt, wenn er lügt, und sich entspannt, wenn er die Wahrheit sagt.

Der Bundesgerichtshof sieht den Polygrafen bisher nicht als zulässiges Beweismittel an, weil er zu unzuverlässig sei.

Das Hauptverbreitungsgebiet des Polygrafen sind die Vereinigten Staaten. Dort kommt er sogar in Bewerbungsgesprächen zum Einsatz.

Die nach Bautzen geladene Rechtspsychologin Gisela Klein hat bei dem Vorreiter auf dem Gebiet, Udo Undeutsch, gelernt. Er kämpfte schon in den 1990er Jahren für die Etablierung des Detektors vor Gericht – vergeblich.

Bei einem Test mit 66 Teilnehmern erreichten Gisela Klein und Kollegen eine Wahrheitsquote von 98,5 Prozent.

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Ein Gutachter führt Regie, wertet das Ergebnis aus. „Der Test mit dem Polygrafen kommt nur infrage, wenn der Befragte es freiwillig macht. Das Ergebnis dient seiner Entlastung“, sagt Hertle. Also doch eher ein Wahrheitsdetektor? „Wenn wir eine Täterschaft beweisen wollen, nutzen wir dafür andere Mittel.“ Schon 2013 hatte Hertle mit dem Detektor für Schlagzeilen gesorgt. Warum Juristen sich gegen den Polygrafen sträuben, versteht er nicht. Sie halten den Detektor für unzuverlässig. Hertle will sie heute eines Besseren belehren, „die Rechtswissenschaft weiterbringen.“

Das Stichwort von Expertin Gisela Klein. Das Misstrauen, das der Bundesgerichtshof in einem Urteil bekundete, beruht laut Klein auf den falschen Gutachten. Minutiös schildert die bekannte Rechtspsychologin ihr Vorgehen. Vor dem eigentlichen Test werde der Befragte über alle Fragen aufgeklärt. Von überraschenden Fragen hält sie nichts. Überraschung kann Aufregung erzeugen und sich in den Ergebnissen widerspiegeln. Wenn der Befragte nicht überrascht wird, sind seine erhöhten Werte auf Anstrengung oder Gefahr zurückzuführen.

Gefahr und Anspannung

„Wenn ich eine Verdachtsfrage mit einer Lüge beantworte, wittere ich Gefahr.“ Auf Gefahr würden wir evolutionsbedingt mit Anspannung reagieren, um schneller handeln zu können. Selbst Entspannungsübungen könnten dem Befragten nicht helfen, den Lügendetektoren zu überlisten. „Das bedeutet eine Anstrengung im Gehirn und auch das messen wir.“ Um die Ergebnisse des Befragten einordnen zu können, sagt Klein, wird eine Verdachtsfrage – „haben Sie das Mädchen angerührt?“ – immer von zwei Vergleichsfragen gerahmt, über die der Proband länger grübeln muss. „Haben Sie schon einmal gelogen, um sich aus einer heiklen Situation zu retten?“

Wer unschuldig ist, den strenge die Beantwortung solcher Fragen viel stärker an als Verdachtsfragen, die er wahrheitsgemäß beantworten kann. Nach der Einweisung und der Ankündigung der Fragen würden viele den Test abbrechen oder unter Tränen gestehen. Nicht aber der Angeklagte aus Bautzen. „Natürlich möchte ich den Test machen. Wie soll ich sonst meine Unschuld beweisen?“ habe er gesagt.

Viermal habe Klein alle Fragen gestellt. Viermal habe der Test ihm Wahrheit bescheinigt. Staatsanwältin und Verteidigung plädieren auf Freispruch. Richter Hertle grübelt für einen Moment. Dann das wenig überraschende Urteil: Freispruch. Der Einsatz des Detektors dürfe immer nur eins von mehreren Mitteln sein, sagt Hertle. Und betont doch: „Das heute könnte sein Durchbruch sein!“