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Im Wohnzimmer der anderen

Das Einnehmerhaus zeigt Familienporträts des Fotografen Christian Borchert. Eine Schau mit hohem Erinnerungswert.

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© Borchert / Fotothek

Von Thomas Morgenroth

Freital. Er will der Häuptling in der Familie sein, das ist unübersehbar: Der Bauingenieur S. aus Dresden posierte 1977 mit einem üppigen Federstutz auf dem Kopf für ein Familienporträt, das der Dresdner Fotograf Christian Borchert bei S. zu Hause aufnahm. Die Familie, die namentlich nicht benannt ist, besteht neben dem Vater aus der Mutter, drei Kindern sowie einer Dohle, die in einem Vogelbauer eingesperrt ist. Die Schwarz-Weiß-Fotografie verrät sehr viel über die Menschen, zum Beispiel, dass keineswegs der Vater die Hosen in der Familie anhat, trotz seines demonstrativen Auftritts mit Schlips und gefärbten Gänsefedern. Die Mutter, eine Ärztin, ist es, die das Zepter schwingt. Darauf deutet vieles hin, ihre Haltung, ihre Mimik – und die verschämten Blicke der Kinder, die sich ein Stück vom Indianer entfernt haben.

S. ist eine von 130 Familien, die Christian Borchert (1942-2000) im Osten Deutschlands im Laufe von zwanzig Jahren in Wohnzimmern, aber auch Küchen, auf Balkonen oder vor dem Haus porträtiert hat. Einige Prominente der DDR sind darunter, oft aber schauen vollkommen unbekannte Menschen in Borcherts Kamera, die bis auf den Anfangsbuchstaben des Nachnamens anonym bleiben. Die meisten Bilder dieses Projektes machte der Fotograf in den Achtzigerjahren, einige schon in den Siebzigern, und in den Neunzigern lichtete er manche Familien erneut ab – was durch den zeitlichen Abstand von rund zehn Jahren spannende Vergleiche der Situation vor und nach der Wende ermöglicht.

Vierzig dieser Familienporträts zeigt jetzt der Kunstverein Freital in Kooperation mit meinhardt medien Berlin und der Deutschen Fotothek Dresden im Einnehmerhaus. Für Menschen jenseits der 50 ist es eine Schau mit hohem Erinnerungswert, zum Beispiel an heute seltsam anmutende Frisuren, an gemusterte Tapeten, Schrankwände mit geblümten Kaffeekannen, Lampen mit Fransen oder verkrüppelte Weihnachtsbäume mit viel Lametta. Für die Jüngeren hingegen ist es ein sehr persönlicher Ausflug in die jüngste Vergangenheit, eine Rückschau auf die Lebensumstände ihrer Eltern und Großeltern.

Borchert, der selbst keine eigene Familie hatte und sich vielleicht auch deshalb diesem Thema zuwandte, fotografierte Kraftfahrer, Scherenschleifer, Küchenhilfen, Lohnbuchhalter oder einen Landwirt mit zehn Kindern. Zu den Künstlern, die Borchert vor seine Kamera holte, gehörten auch einige, die später im Einnehmerhaus Freital zu Gast waren oder dort ausgestellt haben, wie der Bildhauer Hans Scheib, der Grafiker Manfred Butzmann oder der Schriftsteller Richard Pietraß, der Borchert als „unspektakulären Chronisten seiner Zeit mit ihren stillen Dramen und verborgenen Lebenslinien“ würdigte.

Dieses Zitat findet sich auf dem Rücktitel eines mittlerweile vergriffenen Buches aus dem Lehmstedt-Verlag Leipzig, das alle Familienporträts Borcherts vereint. Die letzten Exemplare des hochwertig ausgestatteten Bandes werden übrigens jetzt im Einnehmerhaus verkauft – von Christina Meinhardt. Der Berliner Journalistin, die aus Hainsberg stammt, ist es zu verdanken, dass Bauingenieur S. nun auch in Freital als Häuptling ohne Macht posieren darf.

Familienporträts von Christian Borchert, 19.11. bis 21.12. im Einnehmerhaus Freital, Di. bis Fr. 16-18 Uhr, Sa./So. 10-17 Uhr, 22.11. geschlossen; Eröffnung am 19.11., 11 Uhr; im Anschluss Lesung aus dem Briefwechsel Anton Tschechows mit der Schauspielerin Olga Knipper.