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Im Reich von Gustav Ginzel

Gibt es in Jizerka ein Leben nach dem legendären Misthaus-Besitzer? Die SZ hat sich auf Spurensuche gemacht.

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© Christian Henke

Von Christian Henke

Der Frühling ließ in diesem Jahr auf sich warten in den Hochtälern des Isergebirges. Erst im Mai zauberten die gelben Blüten auf den berühmten Narzissenwiesen rund um das legendäre Misthaus von Jizerka (Klein-Iser) in Tschechien auf 850 Meter Höhe ein prächtiges Blumenmeer. „Mein älterer Bruder Gustav bat seine zahlreichen Besucher und Nachtgäste als Gegenleistung um Katzenfutter und Narzissenzwiebeln. Das Ergebnis kann sich auch heute noch sehen lassen“, meint der 79-jährige Ingenieur Hans Ginzel, der bis vor Kurzem an der Maschinenbau-Fakultät der Technischen Universität Liberec (Reichenberg) lehrte. Man kann ihn im Misthaus in Zeiten geringeren Touristenansturms antreffen, „wenn es in Jizerka nicht wie auf dem Prager Wenzelsplatz zugeht“, wie er augenzwinkernd sagt.

Hier mäandert wildromantisch die Kleine Iser.
Hier mäandert wildromantisch die Kleine Iser. © Christian Henke
In der Berghütte Pešákovna gibt es eine Sammlung von Glocken zu bestaunen.
In der Berghütte Pešákovna gibt es eine Sammlung von Glocken zu bestaunen. © Christian Henke
Hans Ginzel, Bruder des legendären Gustav aus Jizerka, kommt manchmal zum neuen Misthaus.
Hans Ginzel, Bruder des legendären Gustav aus Jizerka, kommt manchmal zum neuen Misthaus. © Christian Henke

Auch wenn die großen Zeiten des Misthauses schon längst der Vergangenheit angehören, erinnert sich Ondøej Duda, einer der fünf in Jizerka offiziell gemeldeten Einwohner, gern an die Begegnungen mit dem 2008 verstorbenen Lebenskünstler Gustav Ginzel. „Als ich ihn 1973 zum ersten Mal traf, war ich positiv schockiert. Er ist und bleibt für mich eine lebenslange Inspirationsquelle“, urteilt der studierte Mathematiker und polyglotte Unternehmensberater über den wohl bekanntesten Bewohner der Siedlung nach 1945. Gemeinsam mit seiner Frau Renata sorgte Ondøej Duda für die denkmalgerechte Restaurierung und Wiederbelebung der touristischen Zentren des „Panský Dùm“ (Herrenhaus) und der „Pyramida“, der ehemaligen Glasschleiferei und des späteren Gasthauses. In diesen beiden mit Restaurants verbundenen Objekten können bis zu 100 Personen übernachten und stellen damit rund ein Fünftel der im Ort in mehreren Bauden und Privathäusern angebotenen Plätze. „Das Herrenhaus wurde 1829 mit der Inbetriebnahme der ersten Glashütte vom böhmischen Unternehmer Franz Riedel errichtet. 37 Jahre später kam eine zweite Glashütte dazu, die bis 1911 produzierte und deren Produktionshalle heute für Sportspiele mit zwei Kletterwänden genutzt werden kann“, erläutert der 64-jährige Initiator der Umgestaltungen.

So wie die Riedel-Dynastie als die Glasmacher-Könige des Isergebirges für den wirtschaftlichen Aufschwung der malerisch gelegenen Holzfällersiedlung sorgte, verdankt Jizerka der Familie Duda mit der Wiederbelebung der gesellschaftlichen Hauptgebäude einen Großteil des touristischen Aufschwungs in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Dazu zählt auch das am 22. Juli zum 13. Mal stattfindende Sankt-Anna-Fest, dessen Hauptorganisatoren Ondøej und Renata Duda sind. „Wir beide bilden als Hüttenmeister-Ehepaar das Empfangskomitee für den traditionell mit einer Pferdekutsche anreisenden Glasfabrikanten Franz Riedel“, freut sich der Hobby-Historiker Ondøej auf die Paraderolle bei diesem Glasmacher-Fest. Neben der Herstellung und dem Verkauf von Glasprodukten, einer Schaufahrt mit historischen Fahrrädern, Theaterspielen für Kinder, folkloristischen Aufführungen und der Möglichkeit zur Sonnenbeobachtung mit dem Teleskop ist das Heimatmuseum ganztägig geöffnet.

Dieses ehemalige einklassige Schulhaus, das als Museum der Geschichte des Isergebirges und des Ortes einst und jetzt gewidmet ist, liegt an der Route des ältesten Lehrpfads des Gebirgszuges. Der Ausgangspunkt befindet sich am großen Parkplatz eingangs von Jizerka, denn der motorisierte Verkehr durch den denkmalgeschützten Ort ist nur Übernachtungsgästen gestattet. „Der knapp sieben Kilometer lange Weg verläuft über einen ehemaligen Basalt-Steinbruch im Naturreservat auf das 1 005 Meter hohe Vulkanplateau des Bukovec (Buchberg). Dort bietet sich ein herrlicher Blick auf die Iserwiese mit unserer Siedlung“, schwärmt der Hotelmanager. Von der im Sommer mit Trollblumen übersäten Wiese am Fuß des Bergs führt der Lehrpfad an den architektonischen Hauptobjekten und der mäandernden Kleinen Iser entlang zur Einmündung des Saphir-flößchens, dem Ort der Begierde der „Welschen“. Das waren Edelsteinsucher des Mittelalters aus dem Süden Europas. Weiter geht der Naturpfad bis zur zwölften und letzten Station, einer Aussichtsplattform im Iser-Hochmoor mit vielen Informationen zur Flora und Fauna des Gebiets.

Viele Gäste aus Thüringen

Auf dem Rückweg bietet es sich an, die Berghütte „Pešákovna“ zu besuchen. An der Decke des Gastraumes ist die Sammlung von Glocken und Glöckchen zu bewundern, die von den Freunden des Hauses im Laufe der Jahre zusammengetragen wurde. Das übernächste Gebäude auf der linken Seite ist das eingangs genannte Misthaus, in dem in der Hochsaison der 1970er und 1980er Jahre täglich bis zu 100 Naturfreunde, Neugierige und Dissidenten Einlass begehrten. Das mit Devotionalien und allerlei skurrilen Schildern ausgestattete „Stereoklo“ für zwei nebeneinander sitzende Personen außerhalb des Misthauses zeugt noch vom schalkhaften Einfallsreichtum seines einstigen Hausherren, des Globetrotters und Isergebirgs-Originals Gustav Ginzel.

Im mit Holzschindeln gedeckten „Panský Dùm“ muss sich Familie Duda derweil keine Sorgen um die Anzahl der Gäste machen. „Die meisten der deutschen Dauergäste kommen erstaunlicherweise aus Thüringen, wenn auch die Sachsen bei den Tagestouristen überwiegen“, weiß Ondøej Duda und ergänzt: „Viele Besucher nutzen die günstige Lage von Jizerka für Fahrradtouren und Wanderungen ins nahe gelegene polnische Orle (Carlsthal) und zu den Felsgruppen des Isergebirges, wo früher Wilderer, wie der berüchtigte Henrich, ihr Unwesen trieben.“

Auf die Frage, welche Wünsche Ondøej und Renata Duda für die Zukunft ihrer Gebirgsheimat haben, antworten sie beinahe unisono: „Keine Neubauten mehr in Jizerka, keine Sport- oder Motorfahrzeuge in den Wäldern und die Wiederaufforstung eines gesunden Mischwaldes rings um den Erholungsort.“ Bestärken kann man diese Vision im Weinkeller des Herrenhauses mit einem süffigen Spätlese-Tropfen aus der kleinen Privatkellerei der Familie Vyskoèil im mährischen Blatnice, die als begeisterte Freunde von Jizerka einen exklusiven Liefervertrag mit dem Herrenhaus abgeschlossen haben.