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Im Liebeswahn

Holger Gehring wird seit Jahren von einer Frau belästigt. In manchen Nächten ruft sie Hunderte Male an, am Tag klebt sie wie ein Schatten an ihm. Der Organist der Kreuzkirche kann nichts dagegen tun.

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© kairospress

Von Doreen Reinhard

Holger Gehring ist kein ängstlicher Mensch. Er sagt, dass ihn so schnell nichts aus der Ruhe bringt, normalerweise. Trotzdem hat er sein Leben mit Vorsichtsmaßnahmen ausgestattet. Wenn er abends in seinem Wohnzimmer sitzt, sind die Jalousien heruntergelassen. Sobald es draußen dunkel ist, verbarrikadiert er sich vor fremden Blicken. Wenn er schlafen geht, liegt sein Handy griffbereit auf dem Nachttisch. Für Notfälle, falls er die Polizei alarmieren muss. Getan hat Gehring das noch nie, aber das Telefon beruhigt seine Angst, es könne etwas passieren. Wenn er das Haus verlässt, kreisen ständig seine Blicke. Immer wieder schaut er sich um und kontrolliert, ob jemand hinter ihm ist. Bei jedem Weg, egal, ob er einen Supermarkt betritt oder zur Arbeit in die Dresdner Kreuzkirche geht. „Das ist mein Verfolgungswahn“, sagt Gehring und ringt sich ein schiefes Lächeln ab, denn eigentlich will er gar nicht so klingen. Nach einem komischen Kauz, der überall Gespenster sieht.

In Wahrheit gibt es nur ein Gespenst und das ist echt. Eine Frau, Ende 40, kräftige Figur, schulterlange Pony-Frisur. Petra P. ist eine Stalkerin und Holger Gehring ihr Opfer. Sie liebt ihn, verflucht ihn, verfolgt ihn. Sehr hartnäckig und sehr lange schon.

Vor neun Jahren hat Petra P. sich im Leben von Holger Gehring eingenistet. Sie hängt wie ein Schatten an ihm, den er nicht abschütteln kann. Selbst in seiner Wohnung fühlt er sich nicht mehr sicher; oft stand sie schon auf der Straße davor und hat in seine Fenster geschaut. Petra P. ist noch nie über seine Schwelle getreten, sie sucht sich andere Wege in sein Zuhause. Ständig ruft sie an, oft im Minutentakt. Sie bespricht seinen Anrufbeantworter, bis der Speicher voll ist. In einer Nacht hat sie das Telefon fast 300-mal klingeln lassen, seither stellt Gehring es stumm. Unzählige Male hat sie seinen Briefkasten mit Geschenken verstopft. Mit Rosen, Büchern, Pralinen, vollgeweinten Taschentüchern. Zuletzt lagen CDs darin. Ein paar davon waren seine eigenen Aufnahmen.

Holger Gehring ist Organist in der Kreuzkirche, 45 Jahre alt, alleinstehend. Eigentlich ist er ein heiterer, ausgeglichener Mensch, der nicht zum Drama neigt. Er stammt aus Bielefeld, der Job hat ihn 2004 nach Dresden geführt. Alles passte, die Stadt und die beruflichen Herausforderungen. Aber nur der Anfang war unbeschwert, denn seine Arbeit in der Kirche hatte bald eine Begleiterscheinung: Petra P.

An die erste Begegnung hätte sich Holger Gehring vielleicht gar nicht erinnert, wäre sie nicht der Anfang einer endlosen Geschichte gewesen. Anfang 2006 sprach sie ihn nach einer Veranstaltung an. „Ich kannte sie nur flüchtig vom Sehen. Sie war ab und zu in der Kirche, so wie andere auch“, erzählt er. „Aber ich hatte vorher noch nie ein Wort mit ihr gewechselt.“ Petra P. nahm das anders wahr. „Sie überschüttete mich mit Vorwürfen, warum ich ihr zuerst Hoffnungen gemacht hätte und ihr nun so ablehnend gegenüberstehe“, erzählt Gehring. Fassungslos sei er gewesen. Damals habe er nicht mal ihren Namen gekannt.

Diese Szene hat sich seither hundertfach wiederholt. Etliche Konzerte des Organisten mussten unterbrochen werden, weil Petra P. vor dem versammelten Publikum schreiend angebliche Wahrheiten über ihn verkünden wollte. Einmal passte sie ihn nach der Arbeit ab, als er mit seinem Auto aus einer Tiefgarage fahren wollte. „Sie hat mir den Weg versperrt und den Leuten, die vorbeiliefen, entgegengerufen: ,Schaut her, dieser Mann hat mit mir gerade ein Wochenende verbracht, und nun will er nichts mehr von mir wissen.‘“

Petra P. zwingt ihn, das Opfer, in die Verteidigungshaltung. Gehring muss immer wieder beteuern, mit ihr noch nie allein in einem Raum gewesen zu sein. Er kennt diese Frau nicht. Und doch weiß er inzwischen mehr von ihr, als er will. Etwa, dass sie mal als Aushilfe in einem Treffpunkt der Kirche gearbeitet hat. Den Job hat sie schon lange nicht mehr, aber viel Zeit, die sie meist in seiner Nähe verbringt.

In einer Stellungnahme, die Petra P. für eine Gerichtsverhandlung verfasst hat, schreibt sie: „Es gibt einen Herrn Gehring, der nach mir sucht, und einen, der mich hart aus seiner Nähe verweist.“ Wirr klingen auch die Geschichten, die sie immer wieder auf seinem Anrufbeantworter hinterlässt. Mal erzählt sie von schweren Krankheiten, unter denen sie leide, an denen nur er schuld sei. Mal preist sie ihn als ihren Erlöser an. Er drückt sofort auf die Löschen-Taste, wenn er ihre Stimme hört. Am liebsten würde er den ganzen Menschen aus seinem Leben löschen, zu den Akten legen, endlich wieder seine Ruhe haben. Aber so einfach ist das nicht.

Polizei, sozialpsychiatrische Beratung, Gericht. Holger Gehring ist alle Wege gegangen, die es für ein Opfer gibt, das einen Stalker loswerden will. Trotzdem ist Petra P. immer noch da. Auch heute. Er probt in der Kreuzkirche, seine Verfolgerin stromert derweil um das Gebäude herum. Als er nach der Arbeit aus der Kirche tritt, schaut er sich um – und entdeckt, dass Petra P. an seinen Fersen klebt. In ein Gespräch verwickeln lässt sie sich nicht, nicht von Fremden. Sie ruft, dass sie Angst habe, und rennt panisch weg. Nur von Holger Gehring lässt sie nicht ab. Minuten später hat sie seine Spur wieder aufgenommen.

Er ignoriert Petra P. Wie eine chronische Krankheit, die ihn unsäglich plagt, mit der man aber irgendwie durch den Tag kommen muss. Manchmal kommt es vor, dass sie sich ihm in den Weg stellt und er Kontakt nicht vermeiden kann. „Dann begegne ich ihr mit größtmöglicher Unfreundlichkeit und sage ihr, dass sie mich endlich in Ruhe lassen soll. Aber das habe ich schon x-mal getan …“

Er könnte ständig wütend und verzweifelt sein, weil ihm seine Verfolgerin die Luft zum Atmen nimmt. Stattdessen zwingt er sich zu nüchterner Ruhe, denn alles andere wäre ein Zugeständnis an die Stalkerin. „Einfluss auf mein Leben nehmen, genau das will sie doch.“ Diesen Sieg will er ihr nicht auch noch gönnen. Also drückt er sich betont freundlich aus, spricht von einer „massiven Einschränkung seiner Lebensqualität“, wenn er eigentlich etwas anderes meint: Dass diese Frau eine Qual für ihn ist und er sich wünscht, dass sie verschwindet, für immer und ewig, egal wohin.

Warum ausgerechnet ich? Holger Gehring fragt sich das, obwohl er weiß, dass es keine logische Antwort gibt. Stalking ist ein Machtspiel, bei dem Emotionen außer Kontrolle geraten, in die Irre führen. Die Dresdner Rechtsanwältin Anca Kübler hat über 100 Betroffene beraten, einige juristisch vertreten und Gemeinsamkeiten festgestellt. Meist kennen sich Täter und Opfer. „Der überwiegende Teil der Täter sind Ex-Partner, bei denen sich nach dem Beziehungsende ein Stalking-Verhalten ausbildet“, sagt sie. Viel seltener sei das sogenannte Prominenten-Stalking. „Das betrifft Personen, die in der Öffentlichkeit stehen und leichter zugänglich sind.“ Der Organist Holger Gehring passt in dieses Schema.

Bei den meisten ihrer Klienten würden die Stalker irgendwann aufgeben, sagt
Anca Kübler. „Stalker wollen Aufmerksamkeit. Die muss man ihnen entziehen und dabei absolut konsequent sein.“ Bei weniger drastischen Fällen genüge es, nachdrücklich Grenzen zu setzen. Massive Verstöße landen vor Gericht. Verhandelt wird wegen Nachstellung nach Paragraf 238. Auch im Fall von Holger Gehring wurde er einige Male angewendet.

Mehrfach wurden vom Dresdner Amtsgericht einstweilige Verfügungen gegen Petra P. erlassen. Sie darf keinen Kontakt mehr zu Gehring haben. Ihn nicht ansprechen oder anrufen, ihn nicht bedrohen oder beschimpfen, sich weder ihm noch seiner Arbeitsstelle auf weniger als 100 Meter nähern. Auch in der Kreuzkirche kennt jeder die Geschichte vom Organisten und seiner Verfolgerin. Wiederholt hat der Kirchenvorstand ein Hausverbot gegen sie ausgesprochen und alle Mitarbeiter aufgefordert, es zu kontrollieren. Nicht einfach in einem Haus, dessen Türen für jedermann offen stehen. Petra P. hat sich immer wieder hineingeschlichen und auch sonst sämtliche Gerichtsauflagen ignoriert. „Nach jedem Urteil war es ein paar Wochen stiller, aber dann fing alles wieder von vorn an“, sagt Holger Gehring.

Theoretisch könnte er die Verstöße melden und auf Besserung hoffen. Ein paar Jahre hat er das auch immer wieder getan, seitenlange Protokolle ausgefüllt, jeden einzelnen Anruf, jede Annäherung aufgelistet, mit Uhrzeit, Zeugen und Tatorten. Es kam vor, dass er in einem Monat ein paar Dutzend Verstöße gegen die Verfügung angezeigt hat. Zwischendurch rief er immer wieder die Polizei an, damit Petra P. auf frischer Tat ertappt wird. Aber meist war sie, als die Beamten eintrafen, schon wieder verschwunden. „Ich bekam von der Polizei auch zu hören, dass man erst einschreiten kann, wenn sie handgreiflich wird“, sagt er.

Zuletzt saß Gehring im Februar im Flur des Dresdner Amtsgerichts, wieder einmal. Es war nicht das erste Stalking-Verfahren gegen Petra P. Dieser Prozess hatte ursprünglich im Jahr 2013 begonnen, damals wurde ein psychiatrisches Gutachten der Angeklagten angeordnet. Dann hatte Gehring lange nichts gehört. Erst anderthalb Jahre später wurde er zur Fortsetzung geladen. Diese Zeitspanne bis zur Ausstellung eines Gutachtens sei durchaus üblich, teilt eine Gerichtssprecherin mit. Was der Befund aussagt, weiß Holger Gehring nicht. Auch der Anwalt von Petra P. und das Gericht verweisen auf den Datenschutz. Die Richterin hat das Verfahren schließlich eingestellt. Ihr Urteil: Die Angeklagte soll 100 Sozialstunden leisten. Was passiert, wenn sich der Zustand nicht ändert? Dafür hat auch das Gericht nur eine hilflose Empfehlung parat: Der Geschädigte könne erneut Anzeige erstatten oder eine weitere einstweilige Verfügung beantragen.

Formalien, in denen Holger Gehring längst keinen Sinn mehr sieht. Schon beim Weg aus dem Gericht war die Stalkerin wieder hinter ihm her, verfolgte ihn durch die Dresdner Straßen. Später steckte sie wieder Geschenke in seinen Briefkasten und rief ununterbrochen bei ihm an. Der Wahn geht weiter, als sei nichts geschehen.

Muss erst etwas Schlimmes passieren, damit etwas passiert? Gehring hat Angst davor. Oft habe ihn Petra P. beschimpft. Manchmal, sagt er, habe er dabei ein seltsames Glimmen in ihrem Blick bemerkt. Als wäre sie nur einen Funken davon entfernt, ihn nicht nur mit Worten zu bedrohen. Deshalb liegt nachts sein Telefon neben dem Bett. Deshalb hat er keine Ruhe mehr.

Er hat überlegt, Dresden zu verlassen, aber glaubt, dass auch das nichts ändern würde. Als er vor einiger Zeit innerhalb der Stadt umgezogen ist, dauerte es nur ein paar Wochen, bis Petra P. seine neue Adresse herausbekam. „Als ich vor ein paar Jahren bei einer Sommerakademie in Wismar war, tauchte sie sogar dort auf.“

Holger Gehring hat kapituliert. Er könnte noch Hunderte Anzeigen aufgeben, „aber das macht mir nur einen Haufen Arbeit und bringt gar nichts“. Er könnte seine Ersparnisse investieren und einen weiteren Prozess führen. Aber eine ernsthafte Option ist das nicht, denn eines will er um jeden Preis vermeiden: der Stalkerin noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Er will ihr so wenig wie möglich von seinem Leben abgeben, in dem sie sich schon so viel Platz erzwungen hat. Auch das ist ein Kampf, den er führt – gegen sich selbst.

Er will der Mann bleiben, der er eigentlich ist, entspannt und lebensfroh. Er verabscheut sein anderes Ich, das mit den Jahren größer geworden ist – der Mensch, der überall Gespenster sieht und ständig Haken schlägt. Er würde gern auf das Mitleid anderer verzichten. Er ist es leid, dieses Leben in Lauerstellung. Überall wittert er Gefahr. Die kleinsten Dinge sind nicht mehr normal, sogar der Applaus nach einem Orgelkonzert. Früher hat sich Gehring einfach so vor dem Publikum verbeugt. Inzwischen scannt er vorher den Raum, um zu kontrollieren, ob Petra P. in der Menge sitzt. Er will sich nicht versehentlich in ihre Richtung verneigen. Die Gefahr wäre zu groß, dass sie in der Verbeugung ein Zeichen seiner Zuneigung sieht.